Schwangerschaft: Warum Folsäure so wichtig ist
Die gesunde Entwicklung eines Embryos setzt nicht nur intakte Gene voraus, sondern auch, dass die Gene korrekt an- und auch wieder abgeschaltet werden.
Auf den ersten Blick haben «Spina bifida» (auf deutsch der Wirbelspalt oder offener Rücken) und Leukämien bei Kindern nichts miteinander zu tun. Während es sich bei der «Spina bifida» um eine frühe Störung der Embryonalentwicklung handelt, die zur Missbildung des Rückenmarkkanals führt und in der Schweiz etwa bei einer von 1000 Geburten auftritt, sind Leukämien Krebserkrankungen des blutbildenden Systems. Solche Erkrankungen treten bei Kindern glücklicherweise nur sehr selten auf und entwickeln sich meist erst nach ein paar Jahren.
Doch nun weisen Forschungsresultate auf eine mögliche Verwandtschaft der beiden Leiden hin: Sie könnten beide auf einen Mangel an Folsäure (oder Vitamin B9) zurückzuführen sein. Die von der Krebsliga Schweiz unterstützte Ärztin Semira Gonseth hat mit Kolleginnen und Kollegen der Universität von Kalifornien in San Francisco das Erbgut von 343 gesunden Kindern untersucht, die (als Kontrollgruppe) an der «California Childhood Leukemia Study» teilnehmen. Dabei geht es der Forscherin nicht um klassische Erbgutschäden oder kaputte Gene, sondern um sogenannte epigenetische Veränderungen, die sich nicht anhand von Mutationen festmachen lassen und sich auch dann auswirken, wenn die genetische Information intakt bleibt.
Denn Gesundheit hängt nicht nur von möglichst fehlerfreien Genen ab. In einem viel grösseren Ausmass hängt sie auch davon ab, dass die Gene korrekt reguliert sind – und beispielsweise im werdenden Embryo zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gebraucht und dann wieder abgeschaltet werden. Der wichtigste epigenetische Abschaltknopf besteht aus kleinen chemischen Anhängseln, sogenannten Methylgruppen, die eine komplexe Maschinerie im Inneren der Zellen am Erbgut anbringt.
Bei den biochemischen Reaktionen dieser Methylationsmaschinerie in den Zellen spielt die Vitaminzufuhr der werdenden Mütter eine zentrale Rolle: Wie die Forschenden um Gonseth in der Fachzeitschrift «Epigenetics» berichten (*), war das Erbgut des Nachwuchses umso stärker methyliert, je weniger Folsäure die Mütter zu sich nahmen. Die grössten Unterschiede in der Methylation stellten die Forschenden an vier Stellen des Erbguts fest. Zwei davon befinden sich gleich neben Genen, die mit der Entwicklung des Nervensystems in Zusammenhang stehen. Eine weitere verschieden stark methylierte Stelle im Erbgut steht neben Genen, die das Krankheitsgeschehen von Krebs – einschliesslich der Leukämien – bestimmen.
Dass Frauen das Risiko für «Spina bifida» senken können, wenn sie vor und während ihrer Schwangerschaft genügend Folsäure zu sich nehmen, ist zwar schon bekannt. Doch was die Folsäurezufuhr genau bewirkt, liegt immer noch im Dunkeln. Die neuen Resultate liefern erstmals eine denkbare Erklärung. «Möglicherweise schützt die Folsäure das sich entwickelnde Kind vor ungünstigen epigenetischen Veränderungen, die auch Krebs auslösen können», sagt Gonseth.
Epigenetische Veränderungen sind zwar grundsätzlich reversibel. Trotzdem liegt auch für Gonseth noch keine direkte Anwendung ihrer Erkenntnisse in Sicht, denn die biologischen Vorgänge im Zellinneren entziehen sich bisher noch einem gezielten therapeutischen Eingriff. Sie sind ungleich dynamischer und komplexer als bisher gedacht – und bringen dabei doch ungeahnte Gemeinsamkeiten, etwa zwischen «Spina bifida» und Kinderleukämien, ans Licht.
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15.12.2015 - dzu