Essstörungen: Präventionskampagnen schiessen am Ziel vorbei
Magersucht und Essbrechsucht sind die bekanntesten Formen von Essstörungen. Andere eher versteckte Formen seien aber häufiger, weniger bekannt und würden durch aktuelle Präventionskampagnen gegen "Übergewicht" noch geschürt, wie eine Studie des Universitätsspitals Lausanne belegt.
Häufig junge Mädchen leiden nicht an den typischen Essstörungen wie Magersucht (Anorexie) oder Essbrechsucht (Bulimie), wie die Studienleiterin Sophie Vust, Psychologin bei der multidisziplinären Einheit für Jugendgesundheit am Universitätsspital Lausanne, gegenüber SDA erklärt.
Untypische, für Dritte (auch für Eltern) oft unauffällige Formen von Essstörungen zeigen sich wie folgt: "Betroffene - meist junge Frauen - sind erfüllt von Zweifeln über die Ernährung und ihren Körper", sagt Vust. Sie wechseln ab zwischen Fasten um abzunehmen, und Krisen, in denen sie alles Mögliche in sich hineinstopfen."
Kompensierendes Verhalten (herbeigeführtes Erbrechen oder exzessives Sporttreiben) ist bei diesen Betroffenen hingegen eher selten zu beobachten. Das führt zu einem Teufelskreis: Entbehrungen von Nahrungsmitteln wechseln sich ab mit meist im Verborgenen unkontrolliertem Hineinstopfen genau solcher Nahrungsmittel, die sich die Betroffenen in der Regel verbieten, so die Expertin. Nach einer solchen Krise fühlen sich die Betroffenen noch schlechter und der Zeitabstand bis zur nächsten Krise wird immer kürzer.
Solche atypischen Essstörungen sind etwa fünfmal häufiger zu beobachten als die Magersucht oder Essbrecht-Sucht. Bei körperbetonten Jobs wie Modeln oder Tanzen ist etwa eine von 5 Frauen betroffen.
Leider finden solche Störungen in unserer Gesellschaft mit einem hohen Körperkult (gutes Aussehen, Schlankheit) einen fruchtbaren Nährboden – zunehmend auch bei den Jungs, wie Vost in ihrer Doktorarbeit schreibt.
Und genau dies müsse in künftigen Präventionskampagnen gegen "Übergewicht" mitberücksichtigt werden, so Vust. Es könne nicht angehen, dass nur auf die Ernährung und das Gewicht fokussiert werde. Solche Botschaften seien kontraproduktiv und verschlimmern die Situation von Mädchen und Jungs mit atypischen Essstörungen noch zusätzlich.
Essstörungen sind immer ein Zeichen von tiefer Unsicherheit und Unwohlsein im eigenen Körper und manifestieren psychologische Probleme der Jugendlichen. Deshalb sollte das Schwergewicht der Prävention beim Aufbau des Selbstwertgefühls liegen und sollten innere Werte der Menschen und nicht nur Leistungen berücksichtigen. "Der Druck zum Schlanksein und der Diätwahn müssen stärker angeprangert werden", so Vust.
Die Art der Behandlung hängt vom Alter und vom Schweregrad der Probleme ab. Gruppentherapien seien hilfreich: "Diese Gruppen funktionieren in der Jugend sehr gut, vor allem bei bulimischen Problemen", sagt Vust.
Aber nicht nur die Betroffenen leiden, auch für Angehörige sind Essstörungen von Jugendlichen oft ein grosses Problem. Dem hat sich das Universitätsspital Lausanne angenommen und bietet neu eine kostenlose Selbsthilfegruppe für betroffene Eltern an.
Ab wann es sich tatsächlich um eine Essstörung oder nur um eine vorübergehende Selbstfindungskrise handelt, können Eltern zusammen mit betroffenen Jugendlichen und einem Arzt herausfinden. Das lohnt sich, so Vust: "Etwa 70% der Mädchen überstehen solche Krisen sehr gut und finden eine neue, feste Basis. Doch unbehandelt können diese Störungen chronisch werden und im Extremfall zu schweren gesundheitlichen Folgen, mit sogar tödlichem Ausgang führen."
23.05.2012 - dzu