Multiple Sklerose: Interferon-Therapie bleibt aber unverzichtbar
Interferonpräparate werden als Standardtherapie bei Multipler Sklerose (MS) eingesetzt. In der Vergangenheit konnten mehrere Studien zeigen, dass diese Medikamente die Entzündungsaktivität im Zentralen Nervensystem reduzieren. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zu einer akutellen Kanadischen Studie
Der Einfluss auf das Fortschreiten der Behinderung hingegen, also, ob Patienten auf Gehhilfen oder den Rollstuhl angewiesen sind, ist bislang nicht überzeugend positiv oder negativ belegt. Um dieser Frage nachzugehen, werteten Wissenschaftler aus Kanada Material aus Patientendatenbanken aus. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Interferontherapie das Voranschreiten einer Behinderung nicht bremse.
Diese Nachricht hat viele Patienten verunsichert, doch bei genauerem Hinsehen weist die Studie starke methodische Schwächen auf: „Aus Sicht des Kompetenznetzes MS, der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und des Ärztlichen Beirats der Deutschen MS Gesellschaft ergibt sich aus dieser Arbeit aktuell kein Anlass, die gegenwärtige Behandlungs- und Empfehlungspraxis mit Interferonpräparaten zu ändern“, sagt Prof. Dr. Heinz Wiendl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie, Entzündliche Erkrankungen des Nervensystems und Neuroonkologie an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster. „Wir appellieren daher an alle MS-Patienten, ihre Interferon-Behandlung nicht abzubrechen“, so der Neurologe. Auch für die im Frühjahr erschienene MS-Leitlinie ergäbe sich aus dieser Studie kein Änderungsbedarf.
Die kanadischen Wissenschaftler verglichen 2.556 Patienten, die in eine mit verschiedenen Interferonpräparaten behandelte, eine unbehandelte und eine „historische“ Vergleichsgruppe vor Einführung des Medikaments eingeteilt waren. Die Nachbeobachtungszeit betrug in etwa 5 Jahre. Genau diese rückwärtige Auswertung der Daten stellt die methodische Schwäche dar: „Schwierig ist der Vergleich mit einer Patientengruppe, die möglicherweise einen niedrigeren Entzündungs und Behinderungsgrad aufweist. Auch der Vergleich mit der unbehandelten Kontrollgruppe ist unpräzise, da unter diesen Patienten einige sein könnten, die sich gar nicht für eine Therapie mit Interferonen eignen.“ In der Wissenschaft wird dann von einem sogenannten Selektionsbias gesprochen, d.h. die Ergebnisse der Studie sind aufgrund der Vorauswahl verzerrt.
Die Autoren haben versucht, diesen Bias zu begrenzen, indem Kontrollwerte wie Geschlecht, Alter, Krankheitsdauer und Behinderungsgrad in die Berechnung eingeflossen sind. „Trotzdem lässt sich aus dem Studiendesign bei mangelnden Beweisen für einen positiven Therapie-Effekt nicht im Umkehrschluss wissenschaftlich das Gegenteil ableiten“, meint Professor Wiendl. Des Weiteren sei fraglich, ob die relativ kurze Nachbeobachtungszeit ausreicht, um den langfristigen Effekt des Medikaments zu beurteilen.
Auch Professor Hans-Christoph Diener von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie gibt in diesem Zusammenhang folgendes zu bedenken: „Es ist wissenschaftlich fragwürdig, wenn Daten aus Beobachtungsstudien mit Daten aus großen und ordnungsgemäss durchgeführten randomisierten Placebokontrollierten Studien verglichen werden. Nicht-randomisierte Beobachtungen sind nur dort zulässig wo es keine Erkenntnisse aus randomisierten Studien gibt.“ Zudem hätten Langzeitstudien die Wirksamkeit von beta-Interferon eindeutig nachgewiesen, so Professor Diener.
27.08.2012