Basistherapie hilft Schübe bei MS zu reduzieren - Auskunft eines Experten
Herr Dr. med. Wolff ist Neurologe und Oberarzt der Abteilung Neurologie am Triemli Spital in Zürich. Er erklärt, bei wem die Basistherapie wichtig ist und was die Frühtherapie beinhaltet.
Legende zum Interview - Basistherapie (Frühtherapie)
- Worum geht es bei der Basistherapie?
- Warum nennt sich das auch Basis-Therapie?
- Welche Vorteile bringt die Basistherapie dem Betroffenen?
- Zu welchem Zeitpunkt beginnt der Neurologe mit der Basistherapie und wie lange dauert diese?
- Welche Patienten profitieren am meisten respektive gibt es Argumente dafür, mit einer Frühtherapie zu warten?
- Ist bei der Frühtherapie mit Nebenwirkungen zu rechnen oder gibt es bei MS-Patienten zusätzliche Erkrankungen, welche eine Frühtherapie verhindern?
Sprechzimmer: Herr Dr. Wolff, Studien haben belegt, dass die Frühtherapie (auch Basistherapie genannt) bei MS-Patienten die Schubrate reduzieren kann. Können Sie unseren Lesern und Leserinnen erklären, worum es bei der MS-Frühtherapie geht? |
Dr. med. Stefan Wolff Um die unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten bei der schubförmigen Multiplen Sklerose zu verstehen, muss man zwei Krankheitsstadien unterscheiden: In der frühen Phase der Multiplen Sklerose stehen besonders die Entzündungen im Hirngewebe im Vordergrund. Dabei kommt es zur Zerstörung von Umhüllungsstrukturen (Myelinscheiden) der Nervenfasern. Die Hirnfunktion ist dadurch beeinträchtigt und es können verschiedene Symptome wie z.B. Sehstörungen oder Taubheitsgefühle auftreten. Diese Entzündungen treten im frühen Stadium phasenweise auf. Dieses Stadium der MS wird deshalb auch schubförmig genannt. Da also nur die Umhüllungsstrukturen entzündet sind und die eigentlichen Nervenfasern (Axone) intakt bleiben, bilden sich Schübe in der frühen Phase der Erkrankung meist vollständig zurück. Man muss aber auch wissen, dass bei grossen oder häufigen Schüben auch bereits Axone geschädigt werden können. In der späten Phase der Erkrankung dominieren dagegen Schäden an den Nervenfasern selber, sogenannte degenerative Läsionen. Es kann dabei zu dauerhaften Funktionsausfällen und somit zu bleibenden Symptomen kommen. In diesem Krankheitsstadium hat die Multiple Sklerose keinen schubförmigen Charakter mehr, sondern sie weist einen fortschreitenden (sekundär-progredienten) Verlauf auf. Stehen also in den ersten Jahren Entzündung und Regenerationsvorgänge im Vordergrund, so sind es später degenerative Prozesse. Ziel der modernen MS-Therapie ist es nun, optimal in diese unterschiedlichen Krankheitsphasen einzugreifen. Die Medikamente, die heute im frühen (schubförmigen) Stadium eingesetzt werden, sind entzündungshemmend und haben eine immunmodulatorische, also regulierende Wirkung auf das Immunsystem. Durch den frühen Therapiebeginn wird der antientzündliche Effekt der Substanzen voll ausgeschöpft. Sie sollen insbesondere neuen Schüben vorbeugen oder deren Stärke mildern. Dadurch können bereits zu Beginn der Erkrankung Langzeitschäden verhindert oder zumindest hinausgezögert werden. |
Dr. med. Stefan Wolff Mit dem Begriff Basistherapie werden im allgemeinen Medikamente bezeichnet, die eine Langzeitwirkung haben und aktiv in einen Krankheitsverlauf eingreifen können. Bei der Multiplen Sklerose zählen zu dieser Medikamentengruppe die Beta-Interferone und das Glatirameracetat. Sie sind zwar pharmakologisch unterschiedlich, ihre entzündungshemmende und immunmodulierende Wirksamkeit bei der Multiplen Sklerose wurde jedoch in mehreren Studien belegt. Genau deshalb werden sie als Dauertherapie beim schubförmigen Verlauf eingesetzt. Andere entzündungshemmende Medikamente wie etwa Azathioprin oder Immunglobuline haben ihren Platz in der Basistherapie nur bei bestimmten Patientengruppen oder als Mittel der zweiten Wahl. Erst wenn die Basistherapie versagt, muss auf die sogenannte Eskalationstherapie umgestellt werden. |
Sprechzimmer: Welche Vorteile bringt die Basistherapie dem Betroffenen? |
Dr. med. Stefan Wolff Die akuten Schübe der Multiplen Sklerose lassen sich mit einer Kortikoid-Therapie häufig mildern und verkürzen. Bei den meisten Patienten reicht es jedoch nicht aus, nur den akuten Schub zu behandeln. Auch zwischen den Schüben "schläft" die Erkrankung nicht. Die Entzündungen im Gehirn schreiten auch klinisch unbemerkt voran, und es können bereits in der frühen Krankheitsphase Langzeitschäden durch Zerstörung der Nervenfasern auftreten. Ausserdem weiss man aus Studien, dass im ersten Jahr nach Erkrankungsbeginn bis zu 50% der Patienten einen zweiten Schub erleiden. Bis zum dritten Jahr sind es bereits 66%. Der frühe Beginn einer Basistherapie ist für den Betroffenen daher sehr vorteilhaft, da der Krankheitsprozess verlangsamt und die Zahl sowohl der Schübe als auch der nachweisbaren Läsionen in der Kernspintomographie (MRI) vermindert wird. Eine hohe Läsionszahl im MRI und eine höhere Schubfrequenz in den ersten Jahren bedeuten nämlich ein höheres Risiko für einen schlechteren Krankheitsverlauf. Ziel der Basistherapie ist es also, das Entstehen einer körperlichen Behinderung zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern. Weiterer Vorteil sind die mittlerweile vorliegenden Langzeitbeobachtungen für alle verfügbaren Basistherapeutika. Diese zeigen nämlich, dass mit neuen schwerwiegenden Nebenwirkungen nicht zu rechnen ist. Die bekannten Nebenwirkungen wie z.B. Grippesymptome, Hautreaktionen an den Einstichstellen und Laborveränderungen des Blutes sind meist schnell erkenn- und auch behandelbar. Somit ist von einer hohen Sicherheit bei langjähriger Anwendung auszugehen. Ebenso lassen mehrere Verlaufsbeobachtungen auf eine anhaltende Wirksamkeit der Medikamente schliessen. |
Sprechzimmer: Zu welchem Zeitpunkt beginnt der Neurologe mit der Basistherapie und wie lange dauert diese? |
Dr. med. Stefan Wolff Der Beginn einer Basistherapie wird heute nach Diagnosestellung einer Multiplen Sklerose empfohlen. Früher wurde die Diagnose einer sicheren MS erst nach dem Auftreten eines zweiten Schubs gestellt, so dass erst dann eine Basistherapie eingeleitet wurde. Insbesondere aufgrund der neuen Möglichkeiten der radiologischen Diagnostik hat man in den letzten Jahren neue Diagnosekriterien entwickelt (sog. McDonald-Kriterien). Diese erlauben eine Diagnosestellung bereits nach einem ersten Schubereignis, falls auch die MRI-Befunde und die Resultate der Liquoruntersuchung auf eine MS hindeuten. Diese frühen Formen der MS nennt man entweder "klinisch isoliertes Syndrom" (clinically isolated syndrome, CIS) oder bereits "definitive Multiple Sklerose". Eine Basistherapie kann also bei den meisten Patienten bereits nach dem ersten Schub erfolgen. Über die Anwendungsdauer dieser Therapie gibt es keine einheitlichen Regeln. Grundsätzlich kann und soll die Therapie über viele Jahre fortgeführt werden, solange die Präparate wirken (die Schübe also seltener und leichter werden oder das Fortschreiten der Krankheit sich verlangsamt). Über die Dauer der Therapie entscheidet man deshalb von Patient zu Patient. Manchmal kann in Absprache mit dem behandelnden Neurologen eine Therapiepause sinnvoll sein (z.B. sehr stabile Krankheitsphase, MRI ohne neue Läsionen). Bei Therapieversagern ist meist ein Wechsel auf ein anderes Medikament indiziert (Eskalationstherapie). |
Sprechzimmer: Welche Patienten profitieren am meisten respektive gibt es Argumente dafür, mit einer Frühtherapie zu warten? |
Dr. med. Stefan Wolff An dieser Stelle möchte ich nochmals betonen, dass die MS-Basistherapie, die bei frühem Beginn ja auch Frühtherapie genannt wird, für Patienten mit einem schubförmigen Verlauf entwickelt wurde. Da hier die entzündliche Krankheitsaktivität im Vordergrund steht, haben die Basistherapeutika hier den grössten Nutzen und man beginnt dann möglichst früh mit der Behandlung. Bei den meisten Patienten ist dies schon nach dem ersten Schub indiziert (z.B. nach einem "clinically isolated syndrome", CIS). Beim späteren Übergang in einen chronischen Verlauf liegt dagegen immer weniger oder gar keine Entzündungsaktivität im Gehirn mehr vor. Dies prüft man nach klinischen und radiologischen Kriterien. Der Neurologe muss dann bewerten, ob die ursprüngliche Therapie noch sinnvoll ist. Bei Patienten mit der Diagnose MS, die aber nie Schübe gehabt haben (primär-progredienter Verlauf), ist zunächst ein Abwarten indiziert. Nur bei Hinweisen auf Schübe ist dann der Beginn einer Therapie zu diskutieren. |
Wir bedanken uns herzlich bei Herr Dr. med. Stefan Wolff für die spontane Zusage und das äusserst informative Interview und wünschen ihm weiterhin viel Erfolg in seiner Arbeit für die MS-Patienten.
Zum Interview-Partner
Dr. med. Stefan Wolff ist Facharzt für Neurologie FMH und zur Zeit als Oberarzt in der Neurologischen Klinik des Stadtspitals Triemli in Zürich tätig. Seine Ausbildung zum Neurologen absolvierte er im Alfried-Krupp-Krankenhaus in Essen/Deutschland (Prof. Peter Berlit) und in der Neurologischen Universitätsklinik in Bern (Prof. Christian W. Hess), wo er zuletzt in der Spezialsprechstunde für Patienten mit Multipler Sklerose tätig war. Auch in seinem jetzigen Aufgabenbereich beschäftigt er sich besonders mit der ambulanten und stationären Betreuung von MS-Patienten.
Weitere Informationen
21.12.2009 - dzu