Multiple Sklerose: Kognitive Störungen können bereits im MS-Frühstadium auftreten
Gespräch mit PD Dr. Pasquale Calabrese, Institut für Psychologie der Universität Basel, aus Anlass des Welt-MS-Tag 2011.
Der Welt-MS-Tag vom 25. Mai 2011 steht unter dem Motto "Arbeit und Multiple Sklerose (MS)".
Die Arbeitsfähigkeit von MS-Betroffenen wird oft von kognitiven Störungen beeinträchtigt: Das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit, der Sprachausdruck, die Handlungsplanung oder die mentale Flexibilität funktionieren nicht mehr hundertprozentig.
PD Dr. Pasquale Calabrese vom Institut für Psychologie der Universität Basel erläutert im Gespräch mit "Sprechzimmer", was kognitive Störungen sind, mit welchen Symptomen sie zu erkennen sind und was MS-Betroffene bei Einschränkungen der Hirnleistung tun sollten.
Legende zum Interview : Kognitive Einschränkungen bereits im Frühstadium von MS feststellbar
- PD Dr. Pasquale Calabrese, Sie sind Neuropsychologe am Universitätsspital Basel. Multiple Sklerose (MS) wird überwiegend durch Neurologen diagnostiziert und behandelt. Was haben Neuropsychologen mit MS zu tun?
- Man hört immer wieder von Kognition oder kognitiven Einschränkungen bei MS-Betroffenen. Was versteht man genau darunter?
- Kann man kognitive Einschränkungen messen?
- Wie zeigen sich Symptome von Gedächtniseinschränkungen infolge MS?
- Was hat das für Folgen für die Betroffenen?
- MS wird mit körperlichen Einschränkungen, Schüben und Behinderungen in Verbindung gebracht. Wann treten die kognitiven Einschränkungen typischerweise auf?
- Sind alle MS-Betroffenen von Gedächtniseinschränkungen betroffen?
- Was kann man gegen die kognitiven Einschränkungen infolge MS tun?
- Was empfehlen Sie MS-Betroffenen, die Einschränkungen der Gedächtnisleistungen bemerken?
Sprechzimmer: PD Dr. Pasquale Calabrese, Sie sind Neuropsychologe am Universitätsspital Basel. Multiple Sklerose (MS) wird überwiegend durch Neurologen diagnostiziert und behandelt. Was haben Neuropsychologen mit MS zu tun?
PD Dr. Pasquale Calabrese:
Die klinische Neuropsychologie befasst sich grundsätzlich mit der Erfassung und Behandlung von Hirnleistungsstörungen wie sie beispielsweise bei Erkrankungen des Zentralnervensystems auftreten können. Da dies bei rund der Hälfte der MS-Patienten der Fall ist, ist es wichtig, wenn nicht sogar notwendig, dass sich auch Neuropsychologen mit dem MS-Krankheitsbild auseinandersetzen.
Sprechzimmer: Man hört immer wieder von Kognition oder kognitiven Einschränkungen bei MS-Betroffenen. Was versteht man genau darunter?
PD Dr. Pasquale Calabrese:
Mit Kognition sind diejenigen Funktionen gemeint, die unsere geistige Funktionstüchtigkeit ausmachen, also unsere Hirnleistungsfähigkeit. Konkret versteht man darunter solche Leistungen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprachausdruck, Handlungsplanung, mentale Flexibilität. Dementsprechend beziehen sich kognitive Störungen auf die krankheitsbedingten Einschränkungen dieser Leistungen. Solche können aufgrund einer MS-Erkrankung vorkommen. Interessanterweise scheinen bei der MS bestimmte Funktionen besonders häufig in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Dies betrifft insbesondere bestimmte Bereiche der Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen sowie das mentale Verarbeitungstempo.
Sprechzimmer: Kann man kognitive Einschränkungen messen?
PD Dr. Pasquale Calabrese:
Ja. Die kognitiven Leistungen lassen sich mit standardisierten psychometrischen Tests recht objektiv erfassen. Hierbei lassen sich sowohl ausführliche Testbatterien als auch Kurztests, sogenannte "Screenings", einsetzen. Der Vorteil der Testbatterien ist, dass man ein umfänglicheres Leistungsprofil des Patienten erhält. Allerdings sind sie zeit- und personalaufwendig, da sie eine gewisse Expertise zur Durchführung und Beurteilung voraussetzen. Dies ist oftmals nur in spezialisierten Zentren möglich. Dagegen erlauben Screeningverfahren wie "Multiple Sklerose Inventarium Cognition MUSIC" oder "Symbol Digits Modalities Test SDMT" in recht kurzer Zeit einen globalen Eindruck, ob bei einem Patienten überhaupt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Leistungsstörung besteht. Diese kann dann mit Spezialverfahren weiter gründlicher abgeklärt werden. Da kognitive Störungen bereits im Frühstadium einer MS auftreten können und diese Störungen einen wesentlichen Einfluss auf das Alltagsleben am Arbeitsplatz und in der Familie haben, sollte man grundsätzlich allen MS-Patienten eine neuropsychologische Untersuchung anraten.
Sprechzimmer: Wie zeigen sich Symptome von Gedächtniseinschränkungen infolge MS?
PD Dr. Pasquale Calabrese:
Oftmals bemerken die Patienten die veränderten Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen daran, dass sie beim Lesen eines Buches häufiger zurückblättern müssen, um den Handlungsstrang oder die Bedeutung des gelesenen Abschnittes zu verstehen. Auch berichten Patienten, dass sie bei Gesprächen mit mehreren Personen mit dem roten Faden Mühe haben oder sich nur noch gewisse Teile einer Information, beispielsweise einer Einkaufsliste, merken können. Ganz oft fällt es den Betroffenen schwer, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun.
Sprechzimmer: Was hat das für Folgen für die Betroffenen?
PD Dr. Pasquale Calabrese:
Die Folgen dieser Defizite reichen von Rückzugstendenzen - man beteiligt sich nur noch ungern an Gruppenaktivitäten, wo man sich aktiv einbringen muss - bis hin zu einer Anpassung der Arbeitsleistung: Änderung des Arbeitsplatzes oder innerbetriebliche Umorientierung wegen einer zu hohen Komplexität der Arbeit. In manchen Fällen muss die Gesamtarbeitszeit vermindert oder die Erwerbstätigkeit ganz aufgegeben werden.
Sprechzimmer: MS wird mit körperlichen Einschränkungen, Schüben und Behinderungen in Verbindung gebracht. Wann treten die kognitiven Einschränkungen typischerweise auf?
PD Dr. Pasquale Calabrese:
Grundsätzlich sind kognitive Einschränkungen keine "Akutfolgen" einer Multiplen Sklerose. Deshalb sind sie nicht notwendigerweise an einem Schub oder an eine bestimmte Verlaufsform gebunden. Tatsächlich können Hirnleistungsstörungen auch ausserhalb eines MS-Schubs fortbestehen. Es ist bekannt, dass die Leistungsreduktion insbesondere bei Patienten mit einem chronisch-progredienten Verlauf tendenziell akzentuierter ist.
Sprechzimmer: Sind alle MS-Betroffenen von Gedächtniseinschränkungen betroffen?
PD Dr. Pasquale Calabrese:
Nein, nicht alle MS-Patienten haben automatisch auch Gedächtnisstörungen. In vielen Studien konnte gezeigt werden, dass Gedächtnisstörungen bei rund der Hälfte der MS-Patienten anzutreffen sind. Die klinische Praxis bestätigt diesen Eindruck. Tatsächlich werden diese Defizite von einer Vielzahl von MS-Patienten beklagt und eine genaue Untersuchung erbringt dann oft positive Befunde.
Sprechzimmer: Was kann man gegen die kognitiven Einschränkungen infolge MS tun?
PD Dr. Pasquale Calabrese:
Grundsätzlich gibt es eine Vielzahl von Techniken und Strategien zur Verbesserung oder Behandlung von Hirnleistungsstörungen. Die meisten dieser Methoden wurden im Rahmen von Rehabilitationsmassnahmen bei Schlaganfallopfern und Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma entwickelt. Leider ist die Forschung bei MS-Patienten in dieser Beziehung nicht sehr weit fortgeschritten. Allerdings gibt es inzwischen einige Ansätze die zeigen, dass MS-Patienten von einem spezifischen Hirnleistungstraining, beispielsweise BrainStim, profitieren.
Sprechzimmer: Was empfehlen Sie MS-Betroffenen, die Einschränkungen der Gedächtnisleistungen bemerken?
PD Dr. Pasquale Calabrese:
Ich empfehle den Patienten in jedem Fall eine Abklärung. Dies bietet zunächst den Vorteil, dass sie von kompetenter Seite eine Rückmeldung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit erhalten. Sollte sich zeigen, dass sich die Leistungsdefizite nicht objektivieren lassen, bietet die Abklärung zumindest die Möglichkeit einer konkreten Auseinandersetzung mit dem Thema: Selbstbild, überzogener Leistungsanspruch, subjektives Leistungsempfinden. Zugleich ermöglicht eine Abklärung die Erstellung einer "Baseline": Wenn die Ausgangsleistung einmal erfasst ist, lässt sich im weiteren Verlauf eine subjektiv angegebene oder eine objektivierte Veränderung mit grösserer Sicherheit feststellen. Auf dieser Grundlage lassen sich dann Therapieempfehlungen individueller gestalten.
Sprechzimmer bedankt sich bei PD Dr. Calabrese für die ausführlichen Informationen und wünscht ihm weiterhin viel Erfolg.
Zum Interview-Partner
PD Dr. Pasquale Calabrese ist Psychologe und Psychotherapeut und war Leiter der Abteilung für Neuropsychologie und Verhaltensneurologie an der neurologischen Universitätsklinik
(Knappschaftskrankenhaus) Klinikum der Ruhr-Universität Bochum.
Seit 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Psychologie der Universität Basel tätig.
Universität Basel
Kognitive Psychologie und Methodologie
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