Orale Medikamente in der MS-Therapie - Was hält der Experte davon?
Forscher, Medien und natürlich auch Patienten interessieren sich brennend für die neue Behandlungsform bei MS. Dr. med. Guido Schwegler, Neurologe am Kantonsspital Aarau, informiert zu Effektivität und Sicherheit der neuen oralen MS-Medikamente.
Neue orale MS-Medikamente stehen kurz vor dem Abschluss der klinischen Prüfung und vor der Markteinführung. In den Medien wird darüber geschrieben und über die Wirkungen der Medikamente spekuliert.
Zwei orale MS-Medikamente stehen zur Behandlung von MS damit in den Startlöchern: Eines davon ist neu auf dem Markt und das andere wurde bis heute als Chemotherapeutikum bei Leukämie eingesetzt.
Legende zum Interview - Orale MS-Medikamente
- Was ist unter einer oralen MS-Therapie zu verstehen?
- Können alle MS-Betroffenen von den oralen Medikamenten profitieren?
- Welchen Vorteil haben orale Medikamente gegenüber den heutigen spritzbaren Medikamenten?
- Mit welchen Risiken oder Nebenwirkungen ist bei den oralen Medikamenten zu rechnen?
- Aus Ihrer Erfahrung, wie schätzen Sie das Risiko der oralen Medikamente bei der Langzeittherapie ein?
- Wann kann in der Schweiz mit der Zulassung der Tabletten gerechnet werden?
Sprechzimmer: Herr Dr. Schwegler, Studien , Medien und natürlich die Betroffenen selber interessieren sich brennend für die neue Behandlungsform bei MS. Doch: Was genau ist unter einer oralen MS-Therapie zu verstehen? |
Dr. med. Guido Schwegler Dazu muss ich zuerst ein paar allgemeine Informationen geben. Multiple Sklerose ist die häufigste Krankheit, die im jungen Erwachsenenalter zu einer Behinderung führt. Daher sind die sozialen Auswirkungen gewaltig und eine erfolgreiche Behandlung umso wichtiger. Diese Krankheit ist gekennzeichnet durch wiederholte Entzündungen im Hirn, Rückenmark und im Sehnerv. Aus der Aera vor den ersten wirksamen Behandlungsansätzen weiss man, dass nach durchschnittlich 8-10 Jahren eine sichtbare Behinderung eintritt und MS–Betroffene nach durchschnittlich 15-20 Jahren nicht mehr ohne Hilfsmittel gehen können. Seit 1995 gibt es sogenannte „verlaufsmodifizierende“ Medikamente. Verlaufsmodifizierend deshalb, weil sie den natürlichen Krankheitsverlauf durch Reduktion der Schübe und durch eine Verlangsamung der Behinderungsprogression verbessern. Alle diese in den 90er Jahren zugelassenen Medikamente (Beta Interferone, Glatirameracetat) sind nur eingeschränkt wirksam, können die Krankheit nur verlangsamen und sind nicht in Tablettenform anwendbar. Diese Medikamente müssen sich die Patienten 1x täglich bis 1 x wöchentlich selber unter die Haut spritzen. Dies ist einerseits mühsam, andererseits erleiden viele Patienten durch die ständigen Injektionen chronische Entzündungen des Unterhautfettgewebes. Das kann sehr unangenehm sein. Kurz: die Injektionen schmerzen und wirken nur eingeschränkt. Viele Patienten sind daher ziemlich spritzmüde und wünschen sich eine Therapie in Tablettenform, eine orale Therapie also. Tabletten zur Therapie der Multiplen Sklerose sind deshalb schon lange ersehnt und werden bei gleicher oder sogar verbesserter Wirksamkeit in mittelbarer Zukunft die Standardtherapie mit Beta Interferone und Glatirameracetat ersetzen. |
Sprechzimmer: Können alle MS-Betroffenen von den oralen Medikamenten profitieren? |
Dr. med. Guido Schwegler Voraussichtlich nein. Einige Patienten leiden unter einer derart rasch fortschreitenden MS, dass sie mit den neueren hochwirksamen Antikörpern (Natalizumab) oder mit dem Chemotherapeutikum Mitoxantron weiter behandelt werden sollten. Nach bisherigen Erkenntnissen liegt der Wirksamkeitsgrad der neuen oralen MS-Medikamente zwar über dem der Standardtherapien (Beta Interferone, Glatirameracetat), aber unter der Wirksamkeit von Natalizumab (Antikörper) oder Mitoxantron (Chemotherapeutikum). Ausserdem werden viele Patienten mit mild verlaufender MS unter den jetzigen erfolgreichen Standardtherapeutika vorerst wahrscheinlich eher nicht auf Tabletten umgestellt, nach dem Motto: "never change a winning horse". |
Sprechzimmer: Wie hoch schätzen Sie das Risiko der oralen Medikamente bei der Langzeittherapie ein? |
Dr. med. Guido Schwegler Ich schätze das Risiko als relativ gering ein. Trotzdem ist es wichtig, dass man ein Sicherheitsregister aufbaut, in dem unerwünschte Nebenwirkungen möglichst lückenlos erfasst werden. Nur so kann das potentielle Risiko der neuen oralen Medikamente richtig eingeschätzt werden. Ein solches Register besteht zum Beispiel für Natalizumab (Antikörper). |
Sprechzimmer: Und zum Schluss: Wann kann in der Schweiz mit der Zulassung der oralen MS-Medikamente gerechnet werden? |
Dr. med. Guido Schwegler Wir rechnen in der ersten Hälfte des Jahres 2011 damit. |
Wir bedanken uns herzlich bei Herr Dr. med. Guido Schwegler für die spontane Zusage und das äusserst informative Interview und wünschen ihm weiterhin viel Erfolg in seiner Arbeit für die MS-Patienten.
Zum Interview-Partner
Dr. med. Guido Schwegler ist nach der Ausbildung am Universitätsspital Zürich seit 10 Jahren als Oberarzt auf der Neurologischen Klinik des Kantonsspitals Aarau beschäftigt. Seine Interessen gelten der Multiplen Sklerose, neuromuskulären Krankheiten, tropischen Neurotoxinen und dem Schlaganfall. Mit über 500 Patienten ist die MS Sprechstunde des Kantonsspitals Aarau, der Dr. Guido Schwegler vorsteht, eine der grössten Angebote für MS-Patienten in der Schweiz.
Weitere Informationen
16.02.2010 - dzu