Fallpauschale: Fachleute befürchten schlechte Versorgung Alter und chronisch Kranker
Im Hinblick auf die per Beginn 2012 eingeführten Fallpauschalen (DRG) ist Befürchtung bei Fachleuten gross, dass die Betreuung von komplexen Patienten (Alte, chronisch Kranke etc.) noch schwieriger wird, weil das neue System ihren besonderen Ansprüchen nicht gerecht wird. Die Leistungen werden noch üngenügender vergütet, ist der einhellige Tenor nach einer Umfrage.
Das Forschungsinstitut gfs-zürich hat bei Hausärzten, Spitex-Mitarbeiterien sowie bei Heimpersonal in den Regionen Basel, Zürich und Bern 17 Befragungen zu Vor- und Nachteilen der im 2012 eingeführten Fallpauschalen (DRG) durchgeführt.
Die Antworten waren einhellig und klar: Künftig werde nach Diagnosen und nicht nach Aufwand vergütet und damit müsse eine (noch) schlechtere Versorgung alter Menschen und chronisch Kranker befürchtet werden.
Vulnerable* Patienten benötigen 2-3 Mal so viel Zeit wie andere Patienten. Sie leiden besonders unter dem Spardruck im Gesundheitssektor. In den Spitälern werden die Zeiteinheiten pro Patient immer kürzer, was genau den Bedürfnissen der vulnerablen Patienten zuwider läuft, die ja eher mehr Zeit benötigen. Die befragten Ärzte, Spitex-Verantwortlichen und Heimleitungen sind der Meinung, dass die Spitäler bereits heute rasch an ihre Grenzen stossen im Umgang mit schwierigen Patienten.
* Als "vulnerable Patienten" werden Menschen bezeichnet, die sich verbal oder körperlich nicht mehr selbst helfen können. Dazu zählen beispielsweise alte Menschen, Demente, Suchtkranke, psychisch und chronisch Kranke oder auch Behinderte.
Immer mehr komplexe Fälle
Die verschiedenen Leistungserbringer fühlen sich fachlich zwar gerüstet für die Bedürfnisse vulnerabler Patienten, gerade Ärzte stossen zeitlich aber an ihre Grenzen: es gibt immer mehr komplexe Fälle und immer weniger Hausärzte. Heime fühlen sie sich bei schwierigen Fällen manchmal überfordert, sei es, weil sie deren Bedürfnisse zu wenig verstehen, sei es, weil sie auf spezielle Situationen (Sucht, Aggression, etc.) zu wenig vorbereitet sind. Insgesamt am besten gerüstet fühlen sich die Spitex-Betriebe. Sie passen sich laufend den neuen Herausforderungen an und haben auch personell kein Problem, da sie ohnehin nur diejenigen Leistungen ausführen, die ihnen von den Krankenkassen vergütet werden.
Spitäler entlassen die Patienten heute früher als noch vor ein paar Jahren.
Sie stünden unter Druck, die Patienten nicht länger als medizinisch notwendig im Spital zu lassen. In den meisten Heimen ist man aber froh, wenn die Bewohner möglichst schnell wieder zurückkommen. Die Spitex-Verantwortlichen bedauern, dass Austrittsgespräche mit allen Beteiligten heute leider nicht mehr die Regel ist. Gewisse Spitäler klärten zu wenig ab, ob eine Anschlusslösung vorhanden sei. Ein generelles Problem scheint die Finanzierung von Übergangslösungen nach dem Spitalaufenthalt zu sein.
Leistungen für vulnerable Patienten ungenügend vergütet
Auch wenn das heutige Tarifsystem im Gesundheitswesen vorsieht, dass nach Zeittarif abgerechnet wird, entspricht die Vergütung in der Regel nicht dem Aufwand.*
Ungenügend verrechnet werden:
- längere Zeiteinheiten als gemäss Wirtschaftlichkeitsrechnung der Krankenkasse vorgesehen
- Zusatzaufwand durch Hausbesuche
- Administrative Arbeiten
Besonders Ärzte reklamieren, die Vergütung der Leistungen für vulnerable Patienten sei ungenügend. Das heutige Tarifsystem sei in doppelter Hinsicht unfair: erstens würden Leistungen in Abwesenheit der Patienten nur limitiert vergütet, und zweitens seien Hausärzte gegenüber Spezialisten benachteiligt, indem sie weniger Zeitgutschriften erhalten. Auch würden psychiatrische Behandlungen weniger gut vergütet.
Das bisherige Spitalfinanzierungssystem wird als relativ flexible Lösung gesehen, die individuelle Entscheidungen ermöglicht. Ein Hauptproblem stellt aber die Finanzierung dar, welche die vulnerablen Patienten zu ungeliebten Kunden macht, weil dabei die Spitäler nicht genügend für ihre Leistungen vergütet werden.
Hausärzte befürchten Lawine an Mehrarbeit nach Einführung der DRGs
Die grössten Chancen der Umstellung auf die Swiss DRGs sehen die Stakeholder In der bedarfsgerechten und transparenten Finanzierung. Man verspricht sich vom neuen System auch effizientere Patientenwege, weniger „unnötige“ Behandlungen und klarere Abklärungen, weil Fehlbeurteilungen teurer würden. Die befragten Ärzte, Spitex-Verantwortlichen und Heimleitungen sehen im neuen System aber auch sehr viele Risiken. Die Befürchtung ist gross, dass die Patienten zum reinen Kostenfaktor verkommen.
Gerade bei komplexen Patienten bestehe die Gefahr, dass man ihnen nicht mehr gerecht wird. Es wird befürchtet, dass weniger auf den Allgemeinzustand Rücksicht genommen wird und dass weniger darauf geachtet wird, ob das soziale Netzwerk und die Anschlusstherapie gewährleistet sind. Ob damit der Sache gedient ist, wird stark bezweifelt; man befürchtet einen Karusselleffekt: bei zu früher Entlassung wird der Patient bald wieder zurück im Spital sein. Dies sei nicht billiger. Falls die Patienten früher entlassen werden, befürchten Hausärzte, dass eine Lawine an Arbeit auf sie zukommt. Heime und Spitex erwarten neue technische und personelle Herausforderungen.
Die Umfrage wird spätestens in eineinhalb Jahren wiederholt.
03.11.2011