Neue Leitlinien Demenzen: Bessere Diagnostik und Therapie sind möglich
Nur die Hälfte der Demenzkranken werden in der Versorgung als solche erkannt, noch weniger erhalten eine Behandlung nach den medizinischen Standards. Nach mehr als fünf Jahren Arbeit stellen Neurologen und Psychiater in Berlin heute auf einer Pressekonferenz gemeinsam die vollständig neu überarbeitete ''Leitlinie Demenzen'' vor
Nur die Hälfte der Demenzkranken werden in der Versorgung als solche erkannt, noch weniger erhalten eine Behandlung nach den medizinischen Standards. Nach mehr als fünf Jahren Arbeit stellen Neurologen und Psychiater in Berlin heute auf einer Pressekonferenz gemeinsam die vollständig neu überarbeitete „Leitlinie Demenzen“ vor.
Fachgesellschaften, Berufsverbände und Organisationen von Medizinern, Therapeuten, Pflegepersonal und Patienten haben sich auf Regeln für die Diagnostik und die Behandlung geeinigt. In Deutschland leben bis zu 1,5 Millionen Menschen mit einer Demenz, etwa zwei Drittel davon mit der Alzheimer-Demenz. Demenzerkrankungen stellen Medizin und Gesellschaft vor grosse Herausforderungen und belasten das Gesundheitssystem erheblich. Anlässlich der neuen Leitlinie fordern Experten der beiden federführenden Gesellschaften – der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) –, die wissenschaftlich belegten Therapieoptionen stärker zu nutzen und gleichzeitig weniger sinnvolle Massnahmen zu unterbinden.
Laut der letzten Erhebung des Statistischen Bundesamts im Jahre 2008 kostete die Behandlung von Demenzpatienten mehr als 9 Milliarden Euro im Jahr, das sind rund 4 Prozent der gesamten Krankheitskosten in Deutschland. Ein schwer betroffener Patient schlägt mit bis zu 40.000 EUR pro Jahr zu Buche. Dabei wird nur etwa die Hälfte der neu an Demenz Erkrankten von ihrem Arzt als solche erkannt, wie die AgeCoDe-Studie gezeigt hat. Weniger als die Hälfte der Demenzkranken erfahren eine leitliniengerechte Behandlung, wie Versorgungsstudien zeigen.
Psychosoziale Intervention
Gut geschulte Bezugspersonen fördern den Behandlungserfolg Neben der pharmakologischen Therapie spielen die psychosozialen Interventionen eine wesentliche Rolle: „Psychosoziale Interventionen wirken so gut wie Medikamente und sind gleichrangige zentrale Bausteine im Gesamtbehandlungsplan von Demenzerkrankungen“, betont Prof. Wolfgang Maier von der DGPPN, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn und einer der beiden Sprecher der Leitlinie.
„Die Wirksamkeit alltagsnaher kognitiver Stimulation, individuell angepasster Ergotherapie oder gezielter körperlicher Aktivitäten ist klar nachgewiesen. Die Anwendung solcher Verfahren sollte möglichst zu Hause erfolgen. Damit werden nicht nur Lebensqualität, Fähigkeiten und positive Gefühle der demenziell Erkrankten gefördert, sondern vor allem auch die Pflegenden entlastet.“
Intensive Angehörigentrainings sollten zudem eingesetzt werden, um einerseits bei den pflegenden Familienmitgliedern Belastungsfolgen (v. a. Depressionen, Burnout) zu vermeiden und weitere Erleichterungen herbeizuführen. Andererseits können auf diesem Wege Heimeinweisungen länger vermieden werden. „Wir fordern daher systematische Beratungs- und Trainingsangebote für Angehörige, damit sie entlastet werden und sie nicht selber infolge der Pflege erkranken“, so Maier. Psychosoziale Massnahmen sind eine sinnvolle Investition, die von den Kostenträgern übernommen werden müssten, weil damit belastende Krankheitsfolgen vermieden würden, so Maier.
Prävention: Kann man der Alzheimer-Demenz vorbeugen?
„Die Hinweise verdichten sich, dass eine Alzheimer-Demenz nicht allein Schicksal ist“, sagt Prof. Frank Jessen aus Köln, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Köln und Leitlinienkoordinator der DGPPN. „Es gibt wahrscheinlich Möglichkeiten, das Risiko einer Erkrankung zu mindern. Als Faustregel gilt: Was dem Herz gut tut, hilft auch dem Gehirn.“
Darum gilt es, Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht im Auge zu behalten, um diesen Risikofaktoren frühzeitig medizinisch entgegenzuwirken. Ein gesunder und aktiver Lebensstil, körperliche Bewegung und ein aktives soziales Leben sind weitere Faktoren, die dabei helfen, die Erkrankung zu bremsen. Auch wird in den Leitlinien von der Einnahme von Hormonersatzpräparaten zur Prävention von Demenz abgeraten.
Medikamente: Nur wenige wirken – differenzierter Einsatz erforderlich
Viele Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel, die Patienten heute erhalten, sind wirkungslos. „Wir haben zwar nur ein kleines Arsenal an nachweislich wirksamen Substanzen, diese können wir aber gezielt und individuell einsetzen – und die neue Leitlinie zeigt eine immer bessere wissenschaftliche Studienlage“, sagt Prof. Richard Dodel, Kommissarischer Leiter der Neurologischen Universitätsklinik in Marburg und Experte der Leitlinie.
Die Medikamentengruppe der Acetylcholinesterase-Hemmer fördert die Fähigkeit der Patienten, ihre Alltagsaktivitäten zu verrichten, stabilisiert die kognitive Funktion und den Gesamteindruck bei einer leichten bis mittelschweren Alzheimer-Demenz. Memantin verbessert die Alltagsfunktion und den klinischen Gesamteindruck bei Patienten mit moderater bis schwerer Alzheimer-Demenz. Neu ist, dass der Extrakt aus der Pflanze Ginkgo biloba bei Personen mit leichter bis mittelgradiger Alzheimer-Demenz oder vaskulärer Demenz, die zusätzlich unter Verhaltensänderungen wie Depression oder Antriebsstörungen leiden, Hinweise auf eine positive Wirkung zeigt.
Früherkennung: Eine Vorhersage ist möglich – Ansatz für neue Formen der Prävention
„Wenn die fachlich richtigen Methoden gewählt werden, können wir heute eine Alzheimer-Erkrankung mit einer Vorhersagestärke von 85 bis 90 Prozent prognostizieren“, sagt Prof. Jörg Schulz, Direktor des Neurologischen Universitätsklinikums in Aachen. Jeder Patient mit sicher diagnostizierten klinischen Vorzeichen, einer so genannten MCI (Mild Cognitive Impairment), sollte über die Möglichkeiten einer Frühdiagnostik aufgeklärt werden. Auch wenn es noch nicht eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen ist, gehen wir davon aus, dass frühe präventive Massnahmen die Chance erhöhen, den Fortschritt der Erkrankung zu bremsen.
„Jeder sollte ein Recht haben, diese Option zu nutzen“, so Schulz. Umgekehrt wird von einem Screening (kognitive Tests, Kurztests, apparative Verfahren) bei Personen ohne Beschwerden und Symptome – einzig mit dem Ziel, eine mögliche Demenzerkrankung auszuschliessen – deutlich abgeraten. Anbieter solcher Privatleistungen für Selbstzahler werden von der Leitliniengruppe als nicht seriös angesehen.
Das Recht des Patienten auf Nichtwissen bleibt in jedem Fall bestehen: Die Frühdiagnostik kann nur nach vorheriger Aufklärung durch einen ausgewiesenen Experten, mit Einwilligung des Patienten und mit der entsprechenden Betreuung nach Diagnosestellung erfolgen.
Leitlinien und Demenzen
In medizinischen Leitlinien wird das aktuelle Wissen zu Diagnostik und Therapie von Erkrankungen zu Empfehlungen zusammengefasst. Die vorliegende so genannte S3-Leitlinie stellt die qualitativ höchste Stufe dar: Experten analysieren die weltweit erscheinende Literatur und stimmen anschliessend über die Empfehlungen ab. Demenzen sind Krankheitsbilder, die von einem zunehmenden Verlust kognitiver Fähigkeiten gekennzeichnet sind. Mit Fortschreiten der Krankheit kommt es zu einem Verlust der Alltagskompetenz sowie zum Persönlichkeitszerfall. Am häufigsten ist die Alzheimer-Demenz, weitere in der Leitlinie berücksichtigte Demenzformen sind die vaskuläre Demenz, die Lewy-Körperchen-Demenz sowie die frontotemporale Demenz.
Download der Leitlinie Demenzen 2016 Die Leitlinie ist auf den Internetseiten der beiden Fachgesellschaften DGN und DGPPN zu finden: www.dgn.org und www.dgppn.de/
27.01.2016