Schützt Stillen vor kindlichem Übergewicht?
Seit vielen Jahren und intensiver seit etwa 20 Jahren wird diskutiert, ob nun zwischen Stillen und einer späteren kindlichen Übergewichtsproblematik ein Zusammenhang besteht. Eine 2003 publizierte Übersicht ist dieser Frage intensiv nachgegangen.
Wachstumsmuster in der Kindheit
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die kindliche Ernährungspraxis einen Einfluss auf die spätere Körperfettmasse hat. Die Autoren der amerikanischen DARLING-Studie haben bewiesen, dass gestillte sowie nicht gestillte Kinder in den ersten 6 Monaten genau gleich an Gewicht zusetzten, danach wurden sie wieder schlanker, und zwar ausgeprägter, wenn sie gestillt wurden.
Eine Analyse von 7 US- und europäischen Studien hat für Kinder, die in den ersten 12 Monaten ausschliesslich gestillt wurden, ähnliche Resultate gezeigt. Eine neuere Studie von, wo die Körperzusammensetzung direkt gemessen wurde, belegt, dass gestillte Kinder in den ersten 3-6 Monaten sogar mehr Fett ansetzten als nicht gestillte Kinder, danach war zwischen den Gruppen keine Differenz in der Körperfettmasse nachzuweisen.
In der ganzen Diskussion darf nicht vergessen werden, dass viele Kinder trotz einjährigem Stillen übergewichtig werden. Es ist allerdings nicht sinnvoll, die kindliche Nahrungsaufnahme zu limitieren, da die meisten Mädchen und Buben in den folgenden Jahren wieder schlanker werden.
Zusammenhang zwischen Stillen und kindlichem Übergewicht
Die Übersicht basiert auf Daten von 11 Studien, welche die drei folgenden Einschlusskriterien erfüllten:
1. Mindestens 100 Kinder pro Studienarm
2. Untersuchungszeitraum bis mehr als 3 Jahre
3. Prozentsatz übergewichtiger Kinder
Ein grosses Augenmerk wurde auf die Frage geworfen, ob die Resultate den Einflussfaktor des mütterlichen Übergewichts berücksichtigten, da in den meisten industrialisierten Ländern übergewichtige Frauen seltener stillen als normalgewichtige.
Von 5 Studien mit Kindern bis 6 Jahre zeigten 3 eine signifikante Assoziation zwischen Stillen und vermindertem Übergewichtsrisiko, 2 zeigten keinen Zusammenhang. Interessanterweise war in einer Studie ein späterer Beginn mit fester Nahrung mit weniger übergewichtigen Kindern assoziiert.
Von 6 Studien an älteren Kindern zeigten 5 eine signifikante Assoziation zwischen Stillen und vermindertem Übergewichtsrisiko. 4 der 6 Studien haben den Einflussfaktor des mütterlichen Übergewichts berücksichtigt.
Interessant ist auch die Frage, ob länger gestillte Kinder weniger dick werden als nur kurz gestillte. 4 von 8 Studien zeigten einen solchen „Dosis-Wirkungs“-Zusammenhang, eine Studie zeigte einen Trend dazu und bei 3 konnte ein solcher nicht nachgewiesen werden. Gemäss einer deutschen Studie von Gillman et al., welche den besten Beweis für einen solchen Zusammenhang lieferte, hatten mindestens 9 Monate gestillte Kinder das geringste Übergewichtsrisiko.
Mögliche Erklärungen
Für einen Zusammenhang zwischen Stillen und vermindertem Übergewichtsrisiko werden zur Zeit drei mögliche Erklärungen diskutiert:
1. Erlernte Selbstregulation der Nahrungsaufnahme: Beim Stillen kann das Kind die Nahrungsaufnahme selber kontrollieren, währenddessen nicht gestillte Kinder eher dazu angehalten werden, den ganzen Schoppen zu trinken. So wird eventuell die Selbstregulation auch für spätere Jahre beeinflusst. Studien haben denn auch gezeigt, dass nicht gestillte Kinder im Vergleich zu gestillten mehr Milch trinken und schneller an Gewicht zulegen.
2. Nicht gestillte Kinder haben im Durchschnitt höhere Insulinspiegel und eine längere Ansprechzeit auf Insulin als gestillte Kinder, was mehr Fettgewebe zur Folge hat. Stillen wird auch mit einem geringeren Diabetes Typ 2 (Zuckerkrankheit Typ II) -Risiko assoziiert. Die höheren Insulinspiegel von nicht gestillten Kindern könnten durch die um 60-70% höhere Proteindosis verursacht sein. Eine ebenfalls wichtige Rolle wird dem Leptin zugeschrieben, dessen Spiegel positiv mit der Fettmasse zusammenhängt. Stillen könnte den Leptin-Feedback günstig beeinflussen, so dass der Mechanismus in der Kindheit und Adoleszenz sensitiver ist.
3. Verhaltensweise der Eltern und der Umgebung: Hier kommen vor allem der elterlichen Kontrolle der Nahrungsaufnahme und der physischen Aktivierung eine wichtige Rolle zu. Letztlich ist es auch möglich, dass Eltern, die ihre Kinder stillen, allgemein einen gesünderen Lebensstil haben.
Schlussfolgerung
Von 11 Studien haben 8 gezeigt, dass Kinder, die gestillt wurden, gegenüber nicht gestillten ein um 21-34% geringeres Risiko haben, im Laufe des Kindesalters übergewichtig zu werden. Einige Untersuchungen sprechen für eine „Dosis-Wirkungs“-Beziehung.
Im Vergleich zu anderen, die Körpermasse beeinflussenden Faktoren wie Ernährungsgewohnheiten im Kindesalter, physische Aktivität oder familiäre Belastung scheint der Effekt des Stillens respektive Nicht-Stillens zwar eher klein zu sein, in Anbetracht des epidemischen Ausmasses der Übergewichtsproblematik kommt dem Stillen jedoch eine recht bedeutende Stellung in der Übergewichtsprävention zu.
Zusammenfassender Kommentar
Die Diskussion um die protektive Wirkung von Stillen hinsichtlich verschiedenster Krankheitsbilder ist sicher so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst. Die neueste Diskussion beschäftigt sich mit der Frage, ob Stillen auch gegen spätere Adipositas zu schützen vermag.
11 Studien wurden analysiert, davon 9 aus den letzten Jahren. 8 Studien zeigten ein geringeres Risiko für späteres Übergewicht, wenn die Kinder gestillt waren. Bei der Analyse dieser Arbeiten sollte man auch berücksichtigen, dass die Übersicht eine US-amerikanische Arbeit ist und dass dort die Adipositasepidemie von Kindern noch wesentlich ausgeprägter ist als in Europa, obschon dort nicht wesentlich weniger gestillt wird als bei uns.
Die ganze Diskussion um den Eiweissgehalt der Nahrungen sollte auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass dieser gesetzlich vorgeschrieben ist. Derzeit werden grosse Anstrengungen von einigen Herstellern gemacht, den Proteingehalt zu senken. Obschon Studien vorliegen, welche beweisen, dass die Eiweissversorgung mit neuen, optimierten Formeln auch bei niedrigerem Gehalt ausreichend ist, scheitert dieses Vorhaben im Moment immer noch an den Gesetzen, welche bisher nicht erlauben, den Proteingehalt noch weiter zu reduzieren.
Schlussendlich fragt man sich – wie bei vielen Ernährungsstudien: Was ist die Henne und was das Ei. Ist es nicht viel mehr die Einstellung einer Mutter respektive Familie, welche eine andere ist, wenn die Mutter wirklich 6 Monate oder sogar länger voll stillt? Hat eine solche Mutter / Familie nicht eine andere Einstellung zum Leben, zur Bedeutung der Ernährung, zur Wichtigkeit des Verhaltens im Leben, zum Körpergefühl, etc? Ist es wirklich richtig, dass ein Kind an der Brust seinen Bedarf an Energie besser beurteilen kann?
Wir denken, dass es im Wesentlichen die Einstellung der Mutter / Eltern ist, welche die in dieser Übersicht besprochenen Faktoren zum späteren Übergewicht beeinflusst. Deshalb eben ist es so wichtig, Ernährungs-Kommunikation und -Information zu betreiben, für gestillte und nicht-gestillte Kinder. Das sind schlussendlich die Faktoren, welche unsere Gesellschaft beeinflussen auf dem Weg zum oder weg vom permanenten Übergewicht in unserer Überflussgesellschaft.
20.06.2005 - K G Dewey; J Hum Lact 2003;19(1):9-18.