Sehbehindert im Beruf ist ein Hochseilakt
Die neue Studie des Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen SZB zeigt: Menschen mit Sehbehinderung erleben im Arbeitsmarkt noch immer keine Gleichstellung. Betroffene sind „Meister“ im Kompensieren, im Organisieren und beim Einsatz von Hilfsmitteln, doch ihre Arbeitsstellen sind ständig bedroht.
Am erfolgreichsten sind Sehbehinderte im Berufsleben, wenn sie sich regelmässig mit ihrer Sehbehinderung auseinandersetzen und ihre Fähigkeiten voll einsetzen können.
Wie ergeht es Menschen mit Sehbehinderung am Arbeitsplatz? Welche Faktoren sind förderlich, welche sind hinderlich, um einen Arbeitsplatz möglichst lange zu erhalten? Diesen Fragen ging die Untersuchung SAMS (Studie zum Arbeitsleben von Menschen mit Sehbehinderung) nach; die grösste Untersuchung, die in der Schweiz zu diesem Thema unternommen wurde. Nun liegen die Ergebnisse vor.
Vielfältige Berufe sind möglich
Wie viele Personen mit Sehbehinderung oder Blindheit in der Schweiz berufstätig sind, ist nicht bekannt. Der Grund dafür liegt darin, dass Sehbehinderungen, wie Behinderungen allgemein, nicht gemeldet werden müssen und demnach nicht registriert sind. Der SZB kann aber berechnen, dass ca. 140‘000 Menschen im Berufsalter, zwischen 20 und 65 Jahren, eine Sehbehinderung haben. Ob und wer davon im Ersten Arbeitsmarkt einer Beschäftigung nachgeht, ist aber nicht feststellbar.
Personen mit einer guten schulischen Ausbildung und abgeschlossener Berufsausbildung haben auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich gute Chancen. In der SAMS-Untersuchung (Schweizer Arbeitskräfte mit Sehbehinderung) gaben knapp 47 Prozent der Befragten als höchste abgeschlossene Schulbildung Tertiärbildung an, und fast ebenso viele hatten die Sekundarstufe II besucht und abgeschlossen.
Dabei konnte eine Vielfalt von Berufen festgestellt werden, die sehbehinderte Menschen heute ausüben. Die Studie zählte 84 verschiedene Berufe! Am häufigsten genannt wurden Kaufmännische Angestellte, diverse Büroberufe, Stellen als Informatiker/in, Sozialarbeit, Arbeitskräfte mit unbestimmter Kader- oder Expertenfunktion, Stellen in der Buchhaltung und des Rechtswesens, Masseure und Physiotherapeut/in, Journalist/in, Sonderschullehrerinnen und Heilpädagoginnen oder andere Fachpersonen.
Im Vergleich zum Rest der Bevölkerung (Schweizerische Arbeitskräfte-Erhebung SAKE) sind Menschen mit Sehbehinderung öfter oft im Dienstleistungssektor tätig als z.B. in der Produktion von Gütern oder in der Landwirtschaft.
Trotzdem gibt es Einschränkungen, gerade für die Berufswahl junger Menschen mit Sehbehinderung. Dabei wird heute nicht mehr gefragt, welche Berufe geeignet sind, sondern welche Funktionen eine Stelle beinhaltet – und ob diese von einer Person mit Sehbehinderung ausgeübt werden kann. Über Umschulungsmöglichkeiten informieren die Beratungs- und Rehabilitationsstellen des Sehbehindertenwesens in allen Regionen der Schweiz. Ein bekanntes Kompetenzzentrum für diese Fragen ist SBHprofessional in Basel.
Über Sehbehinderung sprechen lohnt sich!
Wenn im Lauf des Arbeitslebens die Sehfähigkeit abnimmt und immer stärker beeinträchtigt ist, führt das zu grosser Verunsicherung. Betroffene Menschen fragen sich: Bleibe ich genügend leistungsfähig? Mache ich zu viele Fehler? Lohnen sich der grosse Aufwand, die Risiken auf dem Arbeitsweg und meine zunehmende Erschöpfung?
Ein schlechter Rat ist, die Sehbeeinträchtigung verstecken zu wollen. Wer nicht über seine Sehbehinderung spricht und keine Hilfsmittel nutzt, läuft Gefahr, zu viele Fehler zu machen und auszubrennen. Die SAMS-Studie zeigt, dass eine offene und regelmässige Information im Kollegenkreis und bei den Vorgesetzten eine sehr positive Wirkungen hat: Das braucht Mut – aber der Aufwand lohnt sich, für die Leistung, die Sicherheit und die Kollegialität.
Weiterbildung und technische Hilfsmittel
Neben der proaktiven Kommunikation der Sehbehinderung ist es für ein erfolgreiches Arbeitsleben wichtig, regelmässig berufliche Weiterbildungen zu besuchen. Es gilt, fachlich à jour zu bleiben. Hier gibt es bei Menschen mit Sehbehinderung Handlungsbedarf. Sie nehmen seltener als andere an beruflichen Weiterbildungen teil.
Diese sind meist branchenweise organisiert und kaum zugänglich für sehbehinderte Menschen.
Auch die beste technische Ausrüstung zaubert eine Sehbehinderung nicht weg – aber sie kann die Auswirkungen beeinflussen. Mit Hilfsmitteln sind Menschen mit Sehbehinderung am Arbeitsplatz sehr geschickt. Viele setzen Lupenbrillen, Brillen mit Filtergläsern oder moderne elektronische Hilfsmittel gekonnt ein. Für den Arbeitsplatz ist eine gute individuell ausgerichtete Beleuchtung wichtig, denn manchmal braucht es eine stärkere Ausleuchtung, manchmal eher Sicht- und Blendschutz. Von Softwareaktualisierungen müssen Menschen mit Sehbehinderung rechtzeitig erfahren, da teilweise Adaptionen nötig sind.
Unbedingt auf Erholung achten
Mit Sehbehinderung erfolgreich zu arbeiten, ist anstrengend und erfordert höchste Konzentration. Schon der Arbeitsweg ist harte Arbeit. Vorbereitungen für Sitzungen dauern etwas länger und manchmal ist man auf die Unterstützung von Kollegen angewiesen. Für Menschen mit Sehbehinderung, die tendenziell ein überdurchschnittliches berufliches Engagement an den Tag legen, sind Erholungsphasen und regelmässige Pausen ausserordentlich wichtig.
Zur Untersuchung „SAMS“
Für die „Studie zum Arbeitsleben von Menschen mit Sehbehinderung“ (SAMS) fanden über 300 Interviews und Gespräche mit betroffenen Personen, Arbeitgebern und Vorgesetzten statt. SAMS wurde von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW umgesetzt. Finanziell wurde SAMS vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung EBGB, der Migros, dem Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband SBV, dem Schweizerischen Blindenbund SBb und der SBH Basel unterstützt.
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08.12.2015