Wird an älteren Herzpatienten gespart?
Eine Forschergruppe am Inselspital Bern untersuchte die Qualität der Behandlung von Herzinfarkt-Patienten in verschiedenen Altersgruppen und fragt sich: wird an hochbetagten Herzpatienten rationiert behandelt?
Die Expertengruppe um Geriatrie-Oberarzt Andreas Schönenberger wertete 11'932 anonymisierte Herzpatienten-Dossiers aus 55 Schweizer Spitälern aus.
Die Patienten waren zwischen März 2001 und Juni 2006 wegen akuten Herzproblemen behandelt worden.
Weniger Medikamente und Eingriffe
Die Forscher verglichen Diagnose und Therapie in den verschiedenen Altersgruppen. Sie berücksichtigten, dass bei älteren Patienten häufiger objektive medizinische Gründe gegen Herzeingriffe bestehen. Der Befund ist dennoch überraschend:
- Über 80-jährige Patienten erhielten weniger oft Aspirin oder Betablocker, obschon diese Medikamente empfohlen wären.
- Ältere Patienten erhielten weniger oft einen Herzkatheter-Eingriff, auch wenn dieser Eingriff empfohlen wäre.
Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen sind eindrücklich. Bei jüngeren Patienten mit akutem Herzinfarkt wurde in etwa 90 Prozent der Fälle der empfohlene Herzkatheter-Eingriff durchgeführt, bei den über 80-jährigen Patienten dagegen nur bei 33%.
Fazit: Ältere Herzinfarkt-Patienten werden oft abweichend von den gültigen Empfehlungen behandelt. Es stellt sich damit die Frage, ob eine versteckte Rationierung stattfindet.
Mögliche Konsequenzen
Die Forscher gehen davon aus, dass die im hohen Alter zunehmende Abweichung von den Empfehlungen Nachteile für hochbetagte Herzinfarkt-Patienten haben könnte. Studienleiter Andreas Schönenberger: „Mit den modernen Behandlungen können wir Herzmuskelgewebe erhalten. Dies kann nicht nur Schmerzen lindern, sondern ist auch wichtig für die Lebensqualität. Geht bei einem Herzinfarkt viel Herzmuskulatur verloren, kann das gerade im Alter zu Behinderungen und Pflegebedürftigkeit führen. Die modernen Behandlungen führen also nicht einfach zu einer Lebensverlängerung, sondern können mithel-fen, die Lebensqualität im Alter zu erhalten.“
Überraschendes Ausmass
Mitautor Andreas Stuck, Geriatrie-Professor an der Universität Bern, ist überrascht über das Ausmass der Abweichung von den Empfehlungen. Stuck: „Die internationalen Fachrichtlinien halten seit sieben Jahren klar fest, dass hochbe-tagte Herzinfarktpatienten gleich wie jüngere Patienten mit den modernen Verfahren behandelt werden sollten.“
Dazu Mitautor Prof. Paul Erne, Chefarzt Kardiologie am Kantonsspital Luzern: „Man muss auch Positives sehen: Wir dokumentieren hier insgesamt eine sensationell gute Richtlinien-Konformität, die wohl kaum ein anderes europäisches Land vorweisen könnte, gerade bei jüngeren Patienten. Wir dokumentieren aber auch eine Abnahme der Richtlinien-Konformität bei den hochbetagten Patienten, was im Einzelfall durchaus gerechtfertigt sein kann. Unbestritten ist aber, dass auch ältere Patienten von moderner Technologie profitieren können, dies aber nicht mit Nullrisiko und zum Nulltarif. Die Studie zeigt ferner die Bedeutung des Herzinfarkt-Registers AMIS Plus, welches der Qualitätssicherung dient.“
Studienleiter und Geriatrie-Oberarzt Andreas Schönenberger: „Würden auch bei über 80jährigen Herzpatienten die Empfehlungen strikter angewendet, so könnten vermutlich Pflege- und Todesfälle vermieden werden.“
International bedeutende Schweizer Studie
Die Studie wurde soeben in der international führenden Fachzeitschrift für Altersmedizin veröffentlicht, dem Journal of the American Geriatrics Society. Es ist die erste Studie, welche die Umsetzung der internationalen Herzinfarkt-Richtlinien vom Jahr 2000 umfassend überprüft.
An der Konzeption und Durchführung der Studie beteiligten sich Fachleute aus dem Inselspital (Universitätsspital Bern), dem Kantonsspital Luzern, der Geriatrie Universität Bern, den Instituten für Sozial- und Präventivmedizin der Universitäten Zürich und Bern, den Universitätsspitälern Lausanne und Zürich und der Klinik La Tour in Genf.
Herzinfarkt-Register AMIS Plus
Die Untersuchung war möglich, weil in der Schweiz ein international einmaliges Herzinfarkt-Register (AMIS Plus) besteht. Dieses Register erfasst seit 1997 anonymisierte Diagnosen, Therapien und Verlaufsdaten von Herzinfarkt-Patienten in seither insgesamt 75 Schweizer Spitälern. Die Studie basiert somit auf umfassenden Daten, die aussagekräftige Forschungsergebnisse ermöglichen. (www.amis-plus.ch)
29.01.2008