Wissenschaftler finden Erklärung für seltene Identitätsstörung
Wenn das eigene Bein als fremd empfunden wird - Xenomelie heisst der Fachbegriff für eine seltene Störung, bei der Menschen das Gefühl haben, dass eine oder mehrere Gliedmassen nicht zu ihnen gehören und folglich amputiert werden sollten. Nun zeigt eine aktuelle Untersuchung von Wissenschaftlern der Klinik für Neurologie des UniversitätsSpitals Zürich, dass bei den Betroffenen bestimmte Hirnstrukturen charakteristisch verändert sind.
Die Wissenschaftler untersuchten 13 Männer zwischen 28 und 73 Jahren mit Xenomelie, die den starken Wunsch nach Amputation eines oder beider Beine hatten. Bei allen existierte dieser Wunsch bereits seit Kindheit und sie konnten exakt angeben, ab welcher Stelle ihr Bein sich fremd anfühlte. Neurologisch, neuropsychologisch und psychiatrisch waren, abgesehen vom Amputationswunsch, alle 13 Personen normal.
Unterschiede zu Menschen ohne diese Störung zeigten sich erst, als die Wissenschaftler die strukturellen Eigenschaften der Hirnrinde genauer untersuchten. Magnetresonanztomographische Messungen ergaben in Bereichen des rechten Schläfenlappens eine dünnere und in Fläche und Volumen reduzierte Oberflächenschicht. Diese Gehirnregionen sind dafür bekannt, dass sie das Körpergefühl als ganzheitliche Funktion unterstützen. Überraschend war dabei, dass bereits die primär-sensorischen Areale, welche für die Sensibilität des Beines zuständig sind, weniger deutlich entwickelt waren. Dies, obschon der Tastsinn auf den nicht gewünschten Körperteilen normal war und die Studienteilnehmer mit Xenomelie über keine Missempfindungen berichteten.
Die Befunde passten gut zum klinischen Bild der Störung, schreibt das Wissenschaftlerteam in der Studie, die in der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift „Brain“ veröffentlicht wurde. Die meisten untersuchten Personen wünschten eine Amputation des linken Beins, welches in der rechten Hirnhälfte repräsentiert ist. Die Tatsache, dass der Amputationswunsch deutlich häufiger Beine als Arme betrifft, steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit der erotischen Komponente, die in vielen Fällen die Xenomelie begleitet.
Eine Amputation wird dann auch bei anderen Menschen als attraktiv empfunden. Ursache dafür sei „eine Störung in Netzwerken, die für die Einheit von Selbstbild und Körper verantwortlich sind“.
Die Bedeutung der Studie sei gross, sagt Prof. Brugger, zumal es sich um die bislang umfassendste experimentelle Untersuchung handle. Die Arbeit könnte dazu beitragen, Therapieansätze für die bislang nicht behandelbare Störung zu finden, hofft er. Schliesslich könnte sie helfen, die „teilweise hitzig geführte Debatte um das ‚Recht auf Amputation‘ zu versachlichen“.
Was die Studie nicht beantworten kann, ist die Frage, ob die Hirnveränderung dem Amputationswunsch zeitlich vorausging oder vielmehr eine Folge davon ist. Verursachen entwicklungsbedingte strukturelle Veränderungen im Gehirn den Amputationswunsch oder führt die langjährige Konzentration auf einen ungewollten Körperteil zu Änderungen in der Hirnrinde?
Erstmals eingehend beschrieben wurde die Störung, bei der Selbstbild und Körperbild nicht übereinstimmen, im Jahr 2005. Noch heute wird dafür auch der Begriff BIID, Body Integrity Identity Disorder, verwendet. Nach Schätzungen sind weltweit mehrere Tausend Menschen betroffen, mehrheitlich sind es Männer. In mehr als 80 Prozent der Fälle wünschen sie eine Beinamputation, links häufiger als rechts. Nur wenige Betroffene, vor allem Frauen, wünschen Amputationen auf beiden Körperhälften. Die Störung ist bis heute nicht therapierbar, der Leidensdruck gross.
Weil in westlichen Ländern die Amputation von intakten Gliedmassen verboten ist, lassen sich die Betroffenen teilweise in Asien operieren oder provozieren einen entsprechenden „Unfall“. Peter Brugger weiss von keinem Betroffenen, der diesen Schritt bereut hat.
24.12.2012