Medikamente: Kinder sind nicht kleine Erwachsene
Kinder bekommen viele Medikamente verabreicht, die nicht vorgängig an Kindern untersucht worden sind. In den Spitälern und Arztpraxen fehlt es an kindergerechten Arzneien und Darreichungsformen.
Kranke Kinder erhalten Medikamente und Therapien, die speziell auf ihre Bedürfnisse und ihren sich entwickelnden Organismus zugeschnitten sind – sollte man meinen. Die Realität sieht oft anders aus: Schätzungen zufolge sind über die Hälfte der Medikamente, die bei Kindern angewendet werden, nicht an Kindern getestet worden. Eine im British Medical Journal veröffentlichte Studie an über 600 Kindern zeigte zum Beispiel, dass zwei Drittel von ihnen während eines Spitalaufenthalts Medikamente verabreicht bekamen, die für den pädiatrischen Gebrauch nicht zugelassen sind. Diese "Off label"-Anwendungen betrafen hauptsächlich die Dosis, das Alter und die Häufigkeit der Verabreichung – ein Vorgehen, das Risiken birgt, weil es leicht zu unerwünschten Wirkungen führen kann.
Das Kind ist kein kleiner Erwachsener
Der Stoffwechsel eines Kindes funktioniert im Vergleich zu einer erwachsenen Person unterschiedlich, er verteilt Medikamente anders und baut verschiedenste Substanzen anders ab. "Will man Kinder angemessen diagnostizieren und behandeln", so Margrit Leuthold, Generalsekretärin der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), "dann kann man nicht von vorneherein mit Analogien zu Erwachsenen arbeiten, sondern braucht Wissen über die Besonderheiten bei Kindern, und nicht nur pauschal bei Kindern, sondern bei Kindern verschiedener Lebensalter."
Forschende Pharmaindustrie hat Mangel erkannt
Führende Pharmaunternehmen in Europa, zusammengeschlossen im Verband EFPIA, wollen künftig vemehrt in die klinische Forschung bei Kindern investieren und neue, Kindern angemessene Medikamente entwickeln. Grossen Bedarf sieht die EFPIA unter anderem bei HIV-Infektionen: Bei Kindern verläuft eine Infektion mit den HI-Viren anders als bei Erwachsenen. Ein weiteres Problemfeld ist Krebs. Bei manchen Krebsformen wie zum Beispiel Leukämie wurden in den letzten Jahren zwar grosse therapeutische Fortschritte erzielt. Doch etwa ein Drittel der rund 12'000 Krebsfälle, die bei Kindern pro Jahr europaweit auftreten, kann laut EFPIA nicht adäquat behandelt werden. Auch für weniger gravierende Krankheiten braucht es neue, oder besser angepasste Medikamente. Kinder unter sechs Jahren können zum Beispiel keine Tabletten schlucken. Aussehen, Geruch und Geschmack tragen zudem wesentlich dazu bei, ob ein Kind die verordnete Arznei zu sich nimmt oder nicht.
Klinische Forschung bei Kindern stärken
Jetzt hat sich auch die Europäische Union des Themas angenommen. Zurzeit wird im europäischen Parlament ein lang erwarteter Vorstoss der EU-Kommission diskutiert, der vorsieht, die klinische Forschung bei Kindern zu verstärken. Als Anreiz für die Industrie, neue Medikamente zusätzlich für den pädiatrischen Gebrauch zu entwickeln und zu prüfen, soll die 20 Jahre dauernde Schutzfrist des Grundpatentes respektive die Dauer des zusätzlichen Schutzzertifikates nach amerikanischem Vorbild um sechs Monate verlängert werden. "Klinische Studien mit Kindern bedeuten einen erheblichen Mehraufwand für die forschende Pharmaindustrie. Dieser sollte entschädigt werden", erklärt Peter Heer vom Basler Pharmakonzern Roche. "Die Industrie hat ursprünglich für eine Verlängerung dieser Schutzfrist um ein Jahr plädiert; aber gemessen an den maximal 15 Jahren, auf die sich der effektiv nutzbare Schutz bei Medikamenten in der Regel reduziert, sind auch sechs Monate ein nicht zu unterschätzender Anreiz."
Den Vorschlag der EU-Kommission allerdings bewertet Margrit Leuthold kritisch. "Ob Anreize für die Industrie nötig sind, ist fraglich", meint sie. Eher würde sie es begrüssen, wenn die Arzneimittelhersteller ihre Marketingausgaben zugunsten der Forschung reduzieren. In den USA hat man andere Erfahrungen gemacht. Dort hat sich der Anreiz einer Patentverlängerung offenbar bewährt: Seit 1998, als eine entsprechende Regelung in Kraft trat, wurden in den USA 110 neue Medikamente für Kinder zugelassen und 700 klinische Studien an Kindern lanciert.
Forschung an Kindern nicht unproblematisch
Kinder sind besonders verletzlich und darum schutzbedürftig. "Aus diesem Grund haben viele Forscherinnen und Forscher Hemmungen, Kinder in klinische Versuche einzubinden", sagt Margrit Leuthold von der SAMW. Das betreffe vor allem kleine Kinder, die noch nicht selber entscheiden könnten, ob sie bei einem Versuch mitmachen wollen oder nicht. "In der Regel entscheiden dann die Eltern", sagt Leuthold. "Solche Stellvertreterentscheide werden aber allgemein als problematisch erachtet." Künftig soll die Forschung mit Kindern durch das Humanforschungsgesetz, das beim Bundesamt für Gesundheit in Vorbereitung ist, geregelt werden. Einer der Grundsätze lautet: Forschung mit Kindern ist nur erlaubt, wenn sie nicht an mündigen, urteilsfähigen Erwachsenen durchgeführt werden kann.
13.10.2005