Schmerzbehandlung bei chronischen Rückenschmerzen
In der Fachzeitschrift Medizinspektrum berichtet Dr. med. Haiko Sprott über neue Erkenntnisse in der Schmerzbehandlung bei chronischen, nicht therapierbaren, lumbalen Rückenschmerzen.
Etwa 80% aller Menschen leiden irgendwann in ihrem Leben unter unspezifischen, längerandauernden Rückenschmerzen.
Über Ursachen, Warnzeichen, Risikofaktoren und Behandlungsmöglichkeiten bei chronischen, nicht oder schwertherapierbaren lumbalen* Rückenschmerzen berichtet der Leitende Arzt, Rheumaklinik und Institut Physikalische Medizin, Universitätsspital Zürich.
*lumbal = zur lendenwirbelsäule gehörend.
Die Erläuterungen richten sich an Ärzte, sind aber für die Patienten ebenso interessant und aufschlussreich.
Einleitung
Ca. 80% aller Menschen antworten auf die Frage: «Haben oder hatten Sie in Ihrem Leben schoneinmal Rückenschmerzen? » mit «Ja» [1]. Die gute Nachricht ist: 80 – 90% der Patienten erholen sich in einem Zeitraum von ca. 6 Wochen [1], ohne dass therapeutische Massnahmen erforderlich werden. Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass ca. 10% dieser Patienten im Verlauf chronische Beschwerden entwickeln [2], die sowohl medizinisch-therapeutisch als auch sozioökonomisch zum Problem werden. Genau diese Patientenpopulation verursacht 80 – 90% der Kosten für medizinische Abklärungen, Behandlungen als auch Kosten, die durch Erwerbsausfall entstehen. In den USA sind chronische Rückenschmerzen die häufigste Ursache für eine Arbeitsunfähigkeit als auch für Arztkonsultationen. Die jährlichen Kosten werden auf ca. 50 Milliarden US$ geschätzt [3] – Tendenz steigend. Bekannt ist ausserdem, dass, je länger die Erkrankung dauert, die Reintegration des Patienten an seinen Arbeitsplatz deutlich schwieriger wird.
Ätiologie- Entstehungsursachen
Ca. 90% der Rückenschmerzen sind mechanischer Ätiologie. Die Abgrenzung erfolgt durch Krankengeschichte und klinische Untersuchung – bei Bedarf durch Labor- und Bilddiagnostik (Röntgenbilder, Computertomographien etc.). Insbesondere bei persistierenden oder progressiven Schmerzen muss der Verdacht auf eine nicht-mechanische Ursache geäussert werden und eine weitere Abklärung erfolgen. Ca. 85% aller Rückenschmerz-Patienten gelten als «unspezifische» Rückenschmerz-Patienten [4], d.h. eine «eigentliche» organische Ursache für die Beschwerdesymptomatik wird nicht gefunden. In diesem Zusammenhang wichtig zu wissen ist, dass auch degenerativ veränderte Gelenke und Bandscheiben asymptomatisch sein können [5]. In verschiedenen Studien wurde gezeigt, dass es zwischen den Befunden im MRI (Alteration des Diskus intervertebralis, Herniation mit Nervenkompression) und den aktuellen Rückenschmerzen keine eindeutige Korrelation gibt. Weiterhin ist bekannt, dass mindestens 30% der gesunden asymptomatischen Bevölkerung signifikante Bandscheibenveränderungen im MRI zeigt.
Warnzeichen
Zu einer forcierten und schnellen Diagnostik sollten die sogenannten «red flags», oder auch «Warnzeichen» führen (Tabelle 1). Diese beinhalten verschiedene Guidelines, wie z.B. ein sehr junges oder ein höheres Alter, ein Malignom (bösartiger Tumor) in der Anamnese, einen unklaren Gewichtsverlust, Fieber, Nachtschmerz und/oder neurologische Defizite (). Hier ist es eindeutig sehr wichtig, die Ursache für die vom Patienten geschilderten Beschwerden schnell zu erfassen und einer Therapie zuzuführen.
Tabelle 1: Red flags (Auswahl)
- Alter < 20 Jahre oder > 55 Jahre
- Karzinom (Krebs) oder HIV
- Infektion (Fieber > 38° C)
- kürzlich erlebtes schweres Trauma (Verletzung)
- unklarer Gewichtsverlust
- Nachtschmerz
- Immunsuppression
o Steroidtherapie
o Drogenanamnese - neurologische Symptomatik
o Kontinenzstörung (unwillkürlicher Harnverlust)
o Reithosenanästhesie
o Paresen (Lähmungserscheinungen)
Chronifizierung
Welche Rückenschmerz-Patienten sind nun diejenigen, die sich zum chronischen Rückenschmerz-Patienten entwickeln? Die klinische Klassifikation der Lumbalgien (akut: ca. 4 – 6 Wochen; subakut: ca. 6 – 12 Wochen; chronisch: mehr als 12 Wochen) ist eine sehr willkürliche Einteilung, die im Einzelfall wenig weiterhilft. Aus molekularbiologischen Untersuchungen der Neuroplastizität des Nervensystems wissen wir zwischenzeitlich, dass Veränderungen, die prinzipiell zur Chronifizierung führen, bereits während Sekunden, Minuten und Stunden auftreten können [6] und damit die Zeit kein adäquates Mass für einen Chronifizierungsprozess darstellt (Loeser JD 2006, persönliche Kommunikation). Die genauen Mechanismen, die zum chronischen Schmerzpatienten führen, sind nicht umfassend bekannt. Man weiss jedoch, dass es auch hier Risikofaktoren (so genannte „yellow flags“, aus dem Umfeld des Patienten gibt, die möglicherweise eine Früherkennung dieser Risikopatienten zulassen (Tabelle 2).
Tabelle 2: Yellow flags (Auswahl)
- Arbeitsunfähigkeit von länger als 4 Monaten
- Niedriger Sozialstatus/Berufsqualifikation
- Geringe Arbeitszufriedenheit
- Vorausgegangene Bandscheibenoperation
- Psychische und soziale Schwierigkeiten
- Depressive Störungen
- Vermeidungsverhalten oder übertriebene Durchhaltestrategien
- Belastende Kindheit
- Mangelhafte emotionale Beziehung
- Geringe Geborgenheit
- Misshandlungen
- Sexueller Missbrauch
- Häufiger Streit im Elternhaus oder Scheidung
Untersuchungsmöglichkeiten , Diagnostik
Im Rahmen der mechanischen Lumbalgien zu diagnostizieren sind die sogenannten lumbovertebralen, lumbospondylogenen und lumboradikulären Schmerzsyndrome sowie Zeichen der Instabilität, der Spinalkanalstenose (Verengung des Spinalkanals) und des sogenannten Facettensyndroms**. Insbesondere bei der Instabilität muss man differenzieren zwischen Instabilität im Bereich der knöchernen Strukturen und Instabilitäten im Bereich der rumpfstabilisierenden Muskulatur. Das Facettensyndrom** stellt diagnostisch ein eher kompliziertes Problem dar, da die klinischen Tests nicht zwingend eindeutig sein müssen, sodass diagnostische Infiltrationen erforderlich werden. Das Hauptproblem bleibt jedoch der «unspezifische» Rückenschmerz, der bei weitem bei dem Grossteil unserer chronischen Rückenschmerz-Patienten anzutreffen ist [4].
**Wirbelgelenke betreffend.
Behandlugnsmöglichkeiten
In erster Linie ist eine sehr subtile Diagnostik erforderlich, um Ursachen für die Rückenschmerzen zu finden und nach Möglichkeit kausal zu behandeln. Des Weiteren ist die Ausdehnung der Rückenschmerzen ein wichtiges Kriterium für die darauf folgenden therapeutischen Massnahmen. Ein lokaler Rückenschmerz kann lokal behandelt werden (z.B. Radiofrequenz-Therapie beim Facettengelenksyndrom). Bei Reaktionen der Muskulatur und der Sehnenansätze (häufig sekundär) sind physiotherapeutische Massnahmen (von der Entspannungstechnik bis zur medizinischen Trainingstherapie) ein probates Mittel im Setting des therapeutischen Massnahmeplans.
Allgemeine Massnahmen, inkl. medikamentöse Schmerztherapie, erlauben es, den Patienten wieder mehr zu aktivieren, was eine unbedingte Voraussetzung ist, um den Circulus vitiosus Schmerz – Schonung – Dekonditionierung - Schmerz zu unterbinden. Selbst im Akutstadium soll der Patient angehalten werden, seine täglichen Aktivitäten möglichst (auch trotz Schmerzen) wieder aufzunehmen. Eine Bettruhe über mehrere Tage ist prinzipiell kontraindiziert. Die Schmerzaufklärung des Patienten dient zum Abbauen von Ängsten, dass diese Schmerzen möglicherweise maligner Natur seien oder den Körper anderweitig zerstören würden. Der Patient darf (und muss!) wissen, dass er sich trotz Schmerzen bewegen darf! Selbst bei chronischen Verläufen rückt das «Leben mit Schmerz» immer mehr in den Mittelpunkt der therapeutischen Anstrengungen. Begleitende psychotherapeutische Interventionen (z.B. Erlernen von Coping-Strategien) sind in diesem Zusammenhang äusserst sinnvoll.
Zusammenfassung
Prinzipiell gilt: Je früher ein Patient mit Rückenschmerzen richtig behandelt wird, desto grösser sind seine Chancen auf eine Schmerzfreiheit (Stichwort: Neuroplastizität) – umgekehrt: je länger es geht bis zur effizienten schmerztherapeutischen Behandlung, desto geringer sind die Chancen. Bestenfalls kann eine Schmerzreduktion erreicht werden. State-of-the-art sind bei chronischen Schmerzpatienten Kombinationstherapien, die sowohl medikamentöse (systemisch und lokal) Massnahmen umgreifen als auch interventionelle Techniken, komplementär-medizinische Massnahmen, gegebenenfalls Operationen bei bewiesener Schmerz-Kausalität sowie physiotherapeutische und psychotherapeutische Massnahmen.
Take Home Messages
- ca. 85% aller Rückenschmerz-Patienten gelten als «unspezifische» Rückenschmerz-Patienten.
- Veränderungen im Röntgenbild und/oder im MRI korrelieren schlecht mit der Schmerz-Symptomatik.
- 80 – 90% der Rückenschmerz-Patienten erholen sich im Zeitraum von 6 Wochen.
- ca. 10 %der Patienten entwickeln chronische Beschwerden
- in erster Linie kausale Therapie (Ursachenbehandlung)
- multidisziplinäre Therapieprogramme bei chronischen Rückenschmerz-Patienten
PD Dr. med. Haiko Sprott, Leitender Arzt, Rheumaklinik und Institut für Physikalische Medizin, UniversitätsSpital Zürich
Referenzen
1. Waddell G. Clinical assessment of lumbar impairment. Clin Orthop Relat Res. 1987 Aug;(221):110-20.
2. Torstensen TA, Ljunggren AE, Meen HD, Odland E, Mowinckel P, Geijerstam S. Efficiency and costs of medical exercise therapy, conventional physiotherapy, and self-exercise in patients with chronic low back pain. A pragmatic, randomized, single-blinded, controlled trial with 1-year follow-up. Spine. 1998 Dec 1;23(23):2616-24.
3. Bronfort G, Goldsmith CH, Nelson CF, Boline PD, Anderson AV. Trunk exercise combined with spinal manipulative or NSAID therapy for chronic low back pain: a randomized, observer-blinded clinical trial. J Manipulative Physiol Ther. 1996 Nov-Dec;19(9):570-82.
4. Dillingham TR. Lumbar supports for prevention of low back pain in the workplace. JAMA. 1998 Jun 10;279(22):1826-8.
5. Gore DR, Sepic SB, Gardner GM. Roentgenographic findings of the cervical spine in asymptomatic people. Spine. 1986 Jul-Aug;11(6):521-4.
6. Carr DB, Goudas LC. Acute pain. Lancet. 1999 Jun 12;353(9169):2051-8.
10.08.2006