Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)
In der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) werden Organe, Systeme und krankhafte Veränderungen nicht isoliert betrachtet. Das Heilziel kann nur eine ganzheitliche Krankheitserkennung und eine dementsprechende ganzheitliche Therapie sein.
Der chinesische Heilkundige betrachtet den Menschen als eine komplexe Einheit. Es finden permanente Wechselbeziehungen zwischen den Körpergeweben, den inneren Organen, den Sinnesorganen und allen anderen Bestandteilen des Körpers statt, wobei jedes Organ und auch jede Organgruppe für bestimmte Funktionen verantwortlich ist.
Nach der traditionellen Chinesischen Medizin sind Magen und Darm für die Verdauung, Nieren und Leber für den Stoffwechsel und das Herz mit den Blutgefässen für den Blutkreislauf verantwortlich. Da alle Organe aber auch gemeinsame Aufgaben im Körper zu übernehmen haben, behindern oder unterstützen sie sich häufig gegenseitig. Diese Wechselbeziehungen zwischen den Organen, bei der sowohl das Blut als auch die Meridiane eine führende Rolle spielen, führt zu dem allein lebenswichtigen Gleichgewicht im Körper und zwischen den dort fliessenden Energien.
Ist dieses Gleichgewicht gestört, etwa durch eine Krankheit oder einen Unfall, so wird nicht nur das direkt dadurch betroffene Organ in Mitleidenschaft gezogen, sondern die Wirkungen dehnen sich eventuell auch auf andere Teile des Körpers aus, die mit diesem in Wechselbeziehung stehen. Deshalb gilt für die chinesische Medizin, dass in jedem Krankheitsfall nicht nur der erkrankte Bereich des Körpers untersucht werden muss, sondern der Organismus in seiner Gesamtheit. Nur dann ist nach der chinesischen Heillehre eine wirkliche Diagnose mit anschliessend erfolgreicher Therapie möglich.
Zu diesem ganzheitlichen medizinischen Prinzip gehört natürlich auch die Vorbeugung als fester Bestandteil. Auf diesen Bereich legt die gesamte asiatische Medizin einen sehr grossen Wert. Ein massvolles, gesundes Leben lässt wesentlich weniger Störungen zu, als ein unausgewogenes und ausschweifendes. Vor allem die Stärkung der körpereigenen Widerstandskräfte ist äusserst wichtig.
Es gilt hierbei sechs Punkte zu beachten:
- das psychische Gleichgewicht
- die körperliche Fitness
- eine gesunde, ausgewogene Ernährung
- ein geregeltes Leben
- eine frühzeitige Krankheitsdiagnose
- eine rechtzeitig einsetzende, ganzheitliche Therapie
Für die Vorbeugung, aber auch die Heilung, hat die chinesische Medizin die verschiedensten Verfahren über Jahrtausende hinweg entwickelt und immer wieder verfeinert. Etwa die Hälfte der chinesischen Medizin wird durch die Pflanzenheilkunde (Phytotherapie, Pharmakologie) abgedeckt. Ebenso wie in der europäischen Pflanzenheilkunde werden die ausgewählten Heilmittel nicht rein auf die Krankheitssymptome zielgerichtet eingesetzt sondern ganzheitlich verwendet.
Ernährung, Körperpflege aber auch Philosophie kommen als wichtige Aspekte hinzu. So kann es vorkommen, dass die chinesische Pflanzenheilkunde andere Pflanzen empfiehlt als die europäische oder bestimmten Gewächsen und ihren Früchten eine andere Bedeutung in der Heilkunde zuordnet.
Wer sich der TCM und ihrer Möglichkeiten bedienen möchte, sollte sich aber unbedingt mit einem Spezialisten für Traditionelle Chinesische Medizin in Verbindung setzen, da zahlreiche der dort verwendeten Pflanzenpräparate nur in kleinen Dosen und nicht über längere Zeiträume hinweg eingenommen werden sollen. Sie können unerwünschte Nebenwirkungen oder Begleiterscheinungen haben, die dann wiederum andere Gesundheitsprobleme auslösen können.
Historisches
Der Sage nach sind es die beiden Kaiser Shen nong und Huang di, die die Medizin begründet haben. Der erstere soll die Heilpflanzen den Menschen zugänglich gemacht haben, der andere die Nadeln in die Medizin eingeführt haben. Es ist da nicht verwunderlich, dass zwei der ältesten medizinischen Werke ihre Namen tragen: Das Shen nong ben cao jing, der Arzneiklassiker des Shen nong, und das Huang di nei jing, der Innere Klassiker des gelben Kaisers.
Beide Werke stammen aus den ersten Jahrhunderten vor Christus. Noch heute studiert jeder traditionell ausgebildete Arzt unter anderem diese beiden Werke, da sie das Grundgerüst der Chinesischen Medizin enthalten. Beide stammen aus dem taoistischen Umfeld, wie dies in mehr oder weniger hohem Masse für die gesamte Chinesische Medizin gilt.
Grundlagen
Die wichtigsten Grundlagen der Chinesischen Medizin - und gerade diese sind es, die im Nei jing ausführlich behandelt werden - sind die Lehre von Yin und Yang und den fünf Wandlungsphasen oder (wie man oft fälschlicherweise in westlichen Publikationen liest) Elementen, die Lehre vom Qi, dieser nicht leicht zu erklärenden Lebenskraft, Energie oder was man als Hilfsüber- setzung auch immer beiziehen will.
Yin und Yang
Diese beiden Begriffe sind scheinbar klar und unmissverständlich. Bei näherem Hinsehen merkt man, dass die Grosszahl der westlichen Autoren von Gegensatzpaaren ausgeht. Yin und Yang sind aber nicht ausschliessende, sondern komplementäre Begriffe. Das eine ist ohne das andere nicht zu denken. Wenn man nach Parallelen im westlichen Denken sucht, fällt einem noch am ehesten die hegelsche Dialektik ein.
Wer Yin und Yang begriffen hat, der hat die ganze Medizin begriffen. So heisst es im Klassiker der innern Medizin. Diese pauschale Aussage mag zwar überspitzt tönen, doch ist sie im Kern richtig. Für die klinische Praxis bilden Yin und Yang einen ersten Raster, der ganz prinzipiell das Therapiekonzept festlegt. Wir finden diesen Raster wieder in der Diagnostik, wo dann weiter differenziert wird, ob es sich um eine ober- flächliche (akute) oder tiefe (chronische) Erkrankung, um eine Kältekrankheit (verlangsamter Prozess) oder um eine Hitzekrankheit (beschleunigter Prozess), um einen Fülleprozess (Überbelastung des Systems) oder um einen Leereprozess (Defizienz) handelt.
Letztlich ergibt sich schon daraus die Therapie der Wahl, denn nicht jede Methode der TCM vermag jede Störung zu beheben. Leereprozesse sind beispielsweise der Akupunktur nur schwer zugänglich, während ihre Domäne Füllekrankheiten in jeder Form sind.
Die fünf Wandlungsphasen
Ein weiteres theoretisches Grundmuster der TCM bilden die fünf Wandlungsphasen, die in westlicher Literatur oft als fünf Elemente erscheinen. Dies ergibt aber falsche Assoziationen, denn es handelt sich hier um ein dynamisches oder ein kybernetisches Modell. Die fünf Wandlungsphasen: Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser sind voneinander abhängig in Zyklen der Hervorbringung, der Steuerung und der Überwindung. Nur die Überwindung ist zum vornherein krankhaft (pathologisch), während die beiden andern Zyklen gesund (physiologisch) sind. Im Falle des Exzesses einer Phase aber kann jeder Zyklus pathologisch werden.
Dies zu begreifen ist sehr wichtig, denn jede der Wandlungsphasen hat Resonanzen in allen Bereichen. Zum Holz resonieren etwa der Wind, das Grüne, der Frühling, die Geburt und frühe Jugend, die Leber, die Gallenblase, das Saure, etc. Bringt man diese Resonanzreihen nach dem Gesetz der fünf Phasen zueinander in Beziehung, erhält man wiederum eine Reihe von klinisch höchst wichtigen Daten.
Nicht nur für die Phytotherapie, wo die Geschmacksarten und das Temperatur- verhalten eine besondere Rolle spielen, sondern auch etwa in der Akupunktur, wo Punktgruppen, die den Wandlungsphasen zugeordnet sind, existieren, haben die Wandlungsphasen ihre Bedeutung.
Qi, Xue und die Säfte
Eine besondere Rolle spielen in der Chinesischen Medizin die Konzepte Qi und Xue. Qi, ist eine dynamische Komponente handelt, die im Körper als eine Art Lebenskraft zirkuliert. Es gibt zwar nur ein Qi, doch äussert es sich in vielen Formen:
- Himmlisches Qi, das wir über die Atmung aufnehmen
- Nahrungsqi, das in den Nahrungsmitteln den Körper erreicht
- Ursprüngliches Qi, das uns als Erbsubstanz und Talent mitgegeben ist, etc.
Für die Chinesen ist Qi aber nicht eine esoterische Angelegenheit, sondern etwas durchaus für jeden Erfahrbares. So wird Qi etwa in den Übungen des Qi gong, im Tai ji quan und in anderen Kampfsportarten gelenkt und kultiviert. Die Praxis gibt hier mehr als jede Theorie. Xue ist der Yin-Anteil des energetischen Konzeptes. Etwas verengend wird es mit Blut übersetzt. Es ist aber mehr. Tritt Qi in substantieller Form auf, heisst es Xue.
Natürlich hat auch die TCM festgestellt, dass der Säftehaushalt des Körpers eine komplexe Angelegenheit ist, weshalb neben Xue noch eine Reihe weiterer Körperflüssigkeiten differenziert werden. Man muss sich aber klar sein, dass es sich letztlich nur um eine von der Funktion diktierte genauere Charakterisierung der Begriffe Qi und Xue handelt.
Diagnostische Besonderheiten
Die Fallaufnahme erfolgt in einer traditionellen chinesischen Praxis nicht wesentlich anders als in einer Praxis bei uns. Was allerdings in der Dia- gnostik fehlt, sind die bildgebenden Verfahren und die chemische Analyse.
Heute wird man sie aus Gründen der Vorsicht miteinbeziehen, da sie prognostisch von Bedeutung sein können. Besonderes Augenmerk richtet der traditionelle Arzt auf die Zunge und den Puls. Die Zunge wird nach Erscheinungsbild, Farbe des Zungenkörpers und Art und Weise des Belags beurteilt. Dies allein gibt schon einen recht klaren Hinweis auf die Krankheit verursachenden Faktoren. Beim Puls werden 28 Qualitäten unterschieden, was aber eine lange Übung und eine gepflegte Hand erfordert.
Es ist aber auch hier darauf hinzuweisen, dass die Resultate durchaus objektivierbar sind. Es wird keinem traditionellen Arzt einfallen, nur auf Grund von Zungen- und Pulsbefund eine Therapie zu verordnen. Gesichtsfarbe, Temperaturempfinden, Schmerzen und Schmerz-qualitäten, Störungen der Miktion, etc., runden das Bild im Verlauf der Anamnese erst ab. Was die Hauptbedeutung in der Diagnostik hat, hängt auch beim chinesischen Arzt vom Können und der Neigung ab. Wenn man Glück hat, trifft man in China noch auf einen Pulsdiagnostiker von traumwandlerischer Sicherheit. Ein solcher aber ist (und war es immer) eine Rarität.
Die Therapiemethoden
Die bedeutendste Therapieform ist die Pharmakologie. Über 2800 Substanzen sind in der Chinesischen Arzneimittellehre vereinigt und bilden einen hoch- wirksamen Schatz, der nach Maos Wort gehoben werden sollte. Viele der Heilsubstanzen finden sich mit tendenziell ähnlicher Verwendung auch im Westen.
Als Beispiele etwa die Rhabarberwurzel, Engelwurz, Zimt, Wegerich etc. Manches aber ist in China allein heimisch. Ob es sinnvoll und in grossem Rahmen machbar ist, sie aus ihrem kulturellen Kontext heraus im Westen verfügbar zu machen, bleibt der Zukunft überlassen. Die wohl bekannteste Therapieform ist die Akupunktur, die im Westen zwar schon seit dem 17. Jahrhundert bekannt ist, aber eigentlich erst in den letzten 20 Jahren in einer Art vermittelt und angewendet wird, die dem chinesischen Standard entspricht.
Es werden dabei Nadeln in die Punkte der Leitbahnen eingeführt um eine Regulation des Qi-Flusses zu bewirken. Da es sich bei der Akupunktur um eine einfache, kostengünstige und dabei hoch- wirksame Methode handelt, empfiehlt sie die Weltgesundheitsorganisation für etwa 80 Indikationen als Therapie der Wahl. Nicht zu trennen von der Akupunktur sind die Moxibustion, eine Erwärmung der Punkte durch Verbrennen von Artemisia (Beifuss), und die Massage der Leitbahnen und Punkte (An mo).
Die im Westen sogenannte Akupressur ist nur in Teilen mit der chinesischen Massage identisch. Als Ergänzung der Akupunktur gilt das Schröpfen, das in der westlichen Naturheilkunde seine direkte Entsprechung hat. Während im Westen die körperliche Ertüchtigung als präventive Massnahme kaum 200 Jahre Tradition hat, sind Übungen zu diesem Zwecke ein integraler Bestandteil der Chinesischen Medizin oder der chinesischen Kultur seit mehreren tausend Jahren.
Heute erobern sie in der Form von Qi gong und Tai ji quan langsam auch die übrigen Kulturkreise. Auch hier fällt es schwer, eine kurze Definition zu geben, da Atemübungen, Gymnastik, Meditationstechniken etc. unter einem Begriff subsumiert werden. Dazu kommt, dass China gerade in diesem Bereich am zugeknöpftesten ist.
Wenig bekannt im Westen ist die Tatsache, dass mit Qi auch äusserlich gearbeitet werden kann. Dabei sendet der Heiler Qi aus und überträgt es auf den Patienten. Ein weiterer Themenkreis, der im Westen kaum bekannt ist, ist das hoch- differenzierte System der chinesischen Diätetik. Auch sie hält erst jetzt Einzug in den Westen.
Da nach einem klassischen Wort der chinesische Arzt vorbeugt und nach Möglichkeit nicht erst nach Ausbruch der Krankheit therapiert, kommt der Diätetik eine enorme Bedeutung in der Chinesischen Medizin zu. Es ist nun in China so gewesen, dass nur einige Ausnahmegestalten die ganze Breite der therapeutischen Methoden beherrscht haben.
Aber die Spezialisierung war und ist doch noch nicht so weit fortgeschritten, dass ein Therapeut nur eine Methode beherrscht. Wer sich im Westen mit Chinesischer Medizin beschäftigen will, tut gut daran, sich einen möglichst breiten Einblick in das System zu verschaffen, um dann nach Neigung und Begabung ein Hauptgewicht zu legen. Als Therapeut sollte er aber immer in der Lage sein, Alternativen innerhalb des Systems anzubieten. Ausserdem ist die Chinesische Medizin ein ganzheitliches System, das auch den Therapeuten als Ganzes fordert.
25.04.2006